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35. Jahrgang InternetAusgabe 2001
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NATO & Kosovo

 

Die NATO vor dem Zerfall
- oder treibende Macht in den Dritten Weltkrieg

Bemerkungen zum Krieg der NATO gegen Jugoslawien, verfaßt am 12. April 1999; als Referat vorgetragen am 17. April 1999, gehalten im Freundeskreis des Euphorion Verlages Hans Imhoff.

Von Peter G. Spengler

 

 Heute in einer Woche plant die Nordatlantische Verteidigungsorganisation ein feierliches Zusammentreffen der mittlerweile 19 Mitglieder, um den 50. Jahrestag ihrer Gründung zu begehen und eine neue Strategie und Aufgabenstellung für dieses Militärbündnis zu verabschieden. Es könnte sein, daß dieser Jahrestag ihr letzter sein wird. Figuren wie Zbigniew Brzezinski, der zu Zeiten des Präsidenten Carter an der Wende zu den achtziger Jahren sehr rührig darin war, Kriegskonfrontationen in vielen Bereichen der Welt aufzubauen und die Anlässe zu Konfrontationen eskalieren zu lassen, drücken es so aus:

„Sollte die NATO bis dahin gewonnen haben, wird das Treffen tatsächlich eine Feier werden. Sollte die NATO bis dahin eine Verhandlungslösung annehmen, mit der Milosevic einige Zugeständnisse hinsichtlich der Forderungen der NATO, die sie vor dem Beginn der Luftangriffe gestellt hatte, gemacht werden, wird das Treffen zu einer Totenwache.“

 Die seit dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges in Europa nie mehr gesehene barbarische Vertreibung der Bewohner des Kosovo durch die Grausamkeiten der Gewaltmaschinerie von serbischem Staat, Militär und bewaffneten Partisanen des Bevölkerungskrieges, wogegen die NATO zwar Krieg zu führen erklärt hat, wogegen sie aber keine Mittel finden wird, bis Kosova so menschenleer ist, wie sich die serbischen Kriegführer das vorstellen, dieses Geschehen ist jedenfalls nicht die Hauptsorge des „Strategieintellektuellen“ Brzezinski. Es geht vielmehr darum:

“Ohne zu übertreiben, ist festzustellen, daß ein Scheitern der NATO das Ende ihrer Glaubwürdigkeit wäre und gleichzeitig die globale Führungsrolle der Vereinigten Staaten in Mitleidenschaft geriete. Die Folgen wären verheerend für die globale Stabilität.”


Der Krieg der NATO

 Aus diesen kurzen Äußerungen wird eines ersichtlich: Was immer dieser ehemalige „Sicherheitsberater“ unter globaler Stabilität verstehen mag, das nordatlantische Bündnis führt in seinem ersten von ihm selbst begonnenen Waffengang, einer Aggression gemäß dem Beschluß der Vereinten Nationen von 1974, zwei Kriege. In dem einen Krieg geht es um die Durchsetzung der globalen Vorherrschaft der NATO unter Preisgabe aller seit dem Bestehen der Nato geltenden Verpflichtungen gegenüber dem Völkerrecht, der Charta der Vereinten Nationen, für und vor dem Gebrauch militärischer Gewalt. Die Weltordnung, wie sie Roosevelt nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen hatte, ist endgültig gesprengt worden. Die Globalisierung der Finanzmärkte, deren Suprematie über die Mehrzahl der nominell souveränen Mitglieder der Vereinten Nationen uns hier aus zahlreichen Beispielen und Erörterungen schon einigermaßen vertraut ist, erfaßt nun auch den Bereich des Gebrauchs der ultima ratio zwischen den Staaten, ja über den Staaten. Die NATO hat in der Tat den Plan gefaßt, sich anstelle der Institutionen der Vereinten Nationen zur politischen und militärischen globalen Obergewalt umzurüsten. Der Krieg gegen Jugoslawien ist ein Vorspiel und ein Testflug dafür.

 Welche Pläne sind es, die von den mittlerweile 19 Staaten Ende nächster Woche verabschiedet werden sollen? Welches sind die neuen Ziele, die vom bisherigen Zweck des Bündnisses abweichen und der Verteidigungsgemeinschaft, die für unseren Bundeskanzler als westliche Staatengemeinschaft Teil des Staatszweckes ist?

 
1.Die Nato kann entgegen den Bestimmungen ihres Artikels 5 außerhalb ihres Vertragsgebietes militärisch intervenieren.
2.Nach 50 Jahren ist die Nato nicht mehr ein Verteidigungsbündnis, sondern ist ein Angriffsbündnis geworden.
3. Die Nato hat sich - entgegen ihren Gründungsstatuten - das Recht angemaßt, gegen jedes souveräne Land zu intervenieren.
4.Die Nato maßt sich das Recht an so zu handeln, ohne oder gar gegen das Mandat irgendeiner anerkannten internationalen Institution, sei es die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder die Vereinten Nationen, wie es ausdrücklich vom Vertrag aus dem Jahre 1949 verlangt wird.
5.Schließlich maßt sich die »neue Nato« das Recht einen Krieg zu beginnen an ohne förmliche Zustimmung oder rechtmäßigen Auftrag von den Parlamenten oder Kongressen seiner Mitgliedstaaten.

 Kurzgefaßt maßt sich die Nato in allen Bereichen, die sie als Fall für Krisenmanagement identifiziert hat, dieselben oberherrschaftlichen Befugnisse an, wie sie auf dem Gebiete der Weltfinanz bereits vom Internationalen Währungsfonds ausgeübt wird - mit den entsprechenden Verfahrensweisen des unentrinnbaren Zwangs und den globalen Verheerungen, die dieses Krisenmanagement bereits angerichtet hat.


Der Krieg um die Prinzipien der Europäischen Erklärung der Menschenrechte

 In Jugoslawien wird auch noch ein zweiter Krieg ausgetragen - allerdings mit den falschen Mitteln, immer zu zaghaft, nie ohne die Ausschaltung der »geopolitisch« verblendeten Diplomatie, die einen Milosevic an der Macht gehalten und ihm zur unumschränkten Diktatur verholfen hat, zu lange in den Denkschablonen und Frontstellungen des Ersten Weltkrieges und vor allem zulange erfolglos. Es handelt sich um den Krieg der Kräfte und Bestrebungen, die nach dem Ende des Kalten Krieges auch im zerfallenden Jugoslawien die Gültigkeit der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Europa durchsetzen wollten. Immerhin ist diese Konvention Bestandteil des deutschen Grundgesetzes; immerhin war die Bundesrepublik Jugoslawien einst Gründungsmitglied der Bewegung blockfreier Staaten, des einzigen Sammelpunktes der Staaten, die der Charta der Vereinten Nationen gegen deren Aushöhlung durch den kalten Krieg der „Supermächte“ Gewicht verschaffen wollten und konnten. Dieser Kampf der europäischen Nationen um die Grundlegung einer Ordnung der Gerechtigkeit in ganz Europa sieht die europäischen Staaten seit dem Fall der Mauer ständig als Verlierer. Und die europäischen Völker werden diesen Kampf auch dann nicht gewonnen haben, wenn es gelänge, die Militärmacht in Jugoslawien und mit ihr Milosevic niederzuwerfen. Man würde einem vernichteten Land die Bedingungen aufzwingen, die erforderlich wären, um Kosovo wieder für seine Bewohner zu befreien, die womöglich dann in diesem verwüsteten Land nicht mehr leben wollen oder können. Je länger die nur begrenzten Mittel eingesetzt werden müssen, desto gewisser ist die Vernichtung Serbiens einerseits und desto zynischer und brutaler der Vernichtungswille der serbischen Führung gegen die Albaner im Kosovo andererseits. Und wer ernsthaft daran denkt, so viele Bodentruppen aufmarschieren zu lassen, wie notwendig wären, um einen Landkrieg gegen das serbische Militär zu gewinnen und Jugoslawien zu besetzen, würde eine nicht mehr berechenbare wirkliche, nicht mehr nur rhetorische Konfrontation mit Rußland heraufbeschwören. Man darf nicht vergessen, daß die Nato nach der Aufnahme neuer Mitglieder und einer Besetzung Jugoslawiens mit Ausnahme Bulgariens und Rumäniens bis an die Grenzen der GUS Europa beherrschen würde. Damit wären die geopolitischen Phantasten ihrem alten Traum von der Beherrschung des Herzlandes der Weltinsel bis auf die Ukraine nahegekommen.


Die Wahrnehmung des Krieges

 Zumindest die militärische Führung der NATO hat sich zum 50. Jahrestag ihrer Gründung reichlich mit Videoaufnahmen von Bombentreffern beschenkt. Sie überläßt es allerdings den serbischen Fernsehkameras, die Bilder davon sendefertig aufzunehmen und den westlichen Fernsehstudios zur Übermittlung in die Wohnzimmer von angegriffenen Serben und den angreifenden Völkern der 19 Mitgliedstaaten der NATO zu übermitteln. Welche Wirkungen der Bombenkrieg der NATO tatsächlich in Jugoslawien anrichtet, was sich tatsächlich dort abspielt, wo serbische Polizeitruppen, reguläres Militär und paramilitärische Vertreibungs- und Exekutionskommandos mittlerweile mehr als zwei Drittel der Bevölkerung Kosovas von ihren Wohnsitzen vertrieben haben, darüber wissen wir nichts. Dies gilt von Gerhard Schröder oder Rudolf Scharping bis hin zu uns. Denn wir haben alle (mit der Ausnahme der amerikanischen und britischen Stellen, die über die vollständigen Auswertungen der in amerikanischem Besitz befindlichen Luft- und Satellitenaufklärung verfügen) - auch Militärs und Politiker der NATO in Brüssel - nicht wirklich die Augen und Instrumente, um zu beobachten, wie die NATO ihren Luftkrieg gegen Serbien und die faschistische Diktatur des Milosevic ihren Krieg im Dunkeln gegen die Kosovo-Albaner führen. Das war schon im Krieg von Amerikanern, Briten und Franzosen gegen den Irak nicht anders. Und darum möchte ich hier Auszüge aus einem Kommentar aus dem Jahre 1991, geschrieben unmittelbar nach dem Beginn des Luftkrieges gegen den Irak, anführen, um zu unterstreichen, daß alle Europäer, für die derzeit von der NATO in den Medien ein anscheinend moralisch notwendiger Bestrafungs- und Erzwingungsakt gegen den Beherrscher des souveränen Staates Jugoslawien vorgeführt und mit Kampfflugzeugen bekräftigt wird, gegenüber dem Vorkriegsgeschehen und dem Kriegsgeschehen so blind sind wie damals die Vereinten Nationen; so blind aber auch wie die Kriegsherren der NATO selber im Angesicht der von ihnen ständig neu bestimmten und genauso ständig verfehlten Kriegsziele.

„Solange diese Unterordnung von Fähigkeiten und Funktionen des Weltsicherheitsrates und auch der Generalversammlung (vom Generalsekretär ganz zu schweigen) unter die ‚informationelle Hegemonie‘ der Vereinigten Staaten andauert, wird die Neue Weltordnung der treibenden Kräfte hinter George Bush allseits dem diametral zuwiderlaufen, was sich die vereinten Nationen in den siebziger Jahren im Rahmen der UNO zur Neuordnung der Weltgemeinschaft erarbeitet haben. (...)
Nach den Erfahrungen der Golfkrise muß man weitergehen und für die UNO (durchaus für das UN-Generalsekretariat und den Sicherheitsrat) ein eigenes Netz von Aufklärungssatelliten mit unabhängigem Auswertungspersonal fordern. Dessen auch zivile Verwendbarkeit wäre ohnehin von Anfang an für jene UN-Organisationen gewährleistet, die sich mit entwicklungsfördernden Aufgaben befassen. (...)
Die Weltöffentlichkeit darf es sich und denen, die den Informationsfluß in der Welt lenken, nicht länger erlauben, sich durch Unterlassung von Information oder durch Falschinformation zur Hinnahme eines vermeidbaren Krieges zwingen zu lassen.“

 Unser Fernsehen beschäftigt uns jeden Abend mit Bildern von einem doppelten Krieg, den keiner der Verantwortlichen Krieg zu nennen gewillt ist und den keiner derer, in deren Namen er geführt wird, wirklich wahrnehmen kann, weil die Mittel der Nachrichtengewinnung im Zeitalter des Internets und der von ihm vorbereiteten „Informationsgesellschaft“ so rigoros monopolisiert sind, daß das Verhältnis zwischen den Kriegsherren und den Völkern, in deren Namen sie Krieg führen, sich dem feudalen Verhältnis wieder angeglichen hat, das im Zeitalter der „Kabinettskriege“ Gültigkeit hatte. Ja, die Umstände und Verhältnisse der Waffengänge, die mit dem Krieg um die Malvinen im Keim begonnen haben, mit dem Krieg gegen den Irak ihren Höhepunkt erreichten und nun Europa heimsuchen, gemahnen bereits an ein ganz anderes Zeitalter des totalen Krieges, wo weder das dynamische Gesetz des Gleichgewichts der Kräfte (wie im 18. und 19. Jahrhundert) noch eine die Gültigkeit internationalen Rechts gewährleistende Vormacht in der Lage wäre, einen Friedenszustand (nach den Regeln von Clausewitz) zu erzwingen - wie die Vereinigten Staaten und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am Ende des Zweiten Weltkrieges. Wir können alle damit anfangen, Schillers „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“, aber auch den „Simplicissimus“ neu zu lesen, denn diese Verläufe und Muster von Kriegen (eben auch gegen die Zivilbevölkerung) sind gestern und vorgestern bereits Wirklichkeit in großen Teilen Afrikas geworden, haben aber seit dem Beginn des ethnischen und staatlichen Aufteilungskrieges von und in Jugoslawien auch Europa erreicht.

 Darüber, daß der Krieg in Jugoslawien seit 1991 von einer alteuropäischen Diplomatie in den Denkkategorien und Frontstellungen der Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges „gemanaged“ wird, ließe sich vielerlei bemerken. Es sollte nur so kurz wie möglich festgehalten werden, daß dem seit den späten achtziger Jahren zerfallenden föderativen Jugoslawien von Anfang an seine tatsächlichen existentiellen Grenzen von einer übernationalen Institution gesetzt worden sind, dem Internationalen Währungsfonds. Der Verwalter der Konkursmasse, der auf die Rettung des serbischen Volksvermögens um jeden Preis (er ist schließlich langgedienter Banker!) setzende Exekutor Milosevic wurde von Anfang an bei all seinen verbrecherischen Versuchen von der anderen übernationalen Institution, der internationalen Diplomatie, dabei begünstigt, dieses Volksvermögen wo immer es ihm mit Gewaltmitteln möglich schien, aus den Bestandteilen Jugoslawiens zusammenzuraffen. Dazu bedurfte er der Aufpeitschung des serbischen Opfer- und Nationalwahns, bei dem ihn zumindest die britische und französische Diplomatie lange Zeit nicht nur nicht in den Arm fiel, sondern dieses Instrument der „Geopolitik“ sogar als willkommenes Instrument zur Erhaltung einer Kluft zwischen Kontinentaleuropa und Rußland immer wieder benutzt hat.

 Das Eingreifen zugunsten des anerkannten Staates Bosnien und Herzegowina und das sich 1995 anschließende Abkommen von Dayton haben das Hauptproblem des Verhältnisses des Staates Serbien zu seiner auch wirtschaftlich nicht unbedeutenden Provinz Kosovo, der Walstatt aller serbischen und orthodoxen Mythenbildung, unangetastet gelassen.

 Gleichwohl ist die Ideologie der Neuen Weltordnung, des Globalismus der einen noch verbliebenen Weltmacht, in der NATO zielstrebig weiter verfolgt worden, so wie die Grenzen des Bündnisses nunmehr bis an die Grenzen Rußlands vorverlegt worden sind. Wann immer sich in der Zeit nach dem Ende des kalten Krieges eine Gelegenheit zur Konfrontation und zur Erweiterung von Zwecken und Aufgaben für diese Fraktion der „Unilateralisten“ und Anhänger der einzig verbliebenen Weltmacht bietet, verstärkt sich die Neigung zu militärischer „Krisenbereinigung aus der Luft“. Und wie es derzeit scheint, kann auch der amerikanische Präsident, der sich dieser Tendenz oft genug zu erwehren versucht hat, den Durchbruch dieser Weltvorherrschaftstendenz nicht mehr aufhalten. Es steht obendrein auch zu befürchten, daß ihm Schlimmeres als ein Impeachment droht, wenn er die Vereinigten Staaten dem Griff des Globalismus und der Neuen Weltordnung zu entreißen versuchen würde. Aber wieviel kläglicher und unterwürfiger verhalten sich dagegen die neuen Staatspersonen in Deutschland, die sich zufrieden darüber preisen, daß Deutschland endgültig in der westlichen Staatengemeinschaft angekommen ist, indem es mit ihr einen Krieg führt. Vielleicht haben sie sich auf dem Weg durch Straßen-, Häuser- und sonstige Kämpfe doch verlaufen und sind noch nicht soweit diesseits des Aktenkoffers angelangt, so daß sie wenigstens wüßten, welche tückischen Pläne für sie darin deponiert worden sind. Man muß es leider feststellen: der außenpolitische Musterschüler Josef Fischer ist allmählich wieder zu seinem agitatorischen Verhalten aus den Kampfzeiten zurückgekehrt und nähert sich dabei ausgerechnet der amerikanischen Außenministerin, der Madam Not at Al(l)bright an, die aus derselben Schule wie der Ideologe Brzezinski kommt.


Der Unilateralismus und die Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland

 Der wissenschaftliche Leiter der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung Harald Müller hat den Zwiespalt der Staatszwecke des republikanischen Nachkriegsdeutschlands in einem Vortrag mit dem Titel „Deutsche Außenpolitik vor dem Ende“ Anfang des Jahres vor einem ausgewählten Kreis von Zuhörern in der Deutschen Bank näher ausgeführt; aus seinem Vortrag zitiere ich einige wichtige Bemerkungen:

Der innerwestliche Multilateralismus und die Stärkung des Völkerrechts müssen jedoch zusammen verwirklicht werden. In jüngerer Zeit deutet sich an, daß darin für die deutsche Politik Schwierigkeiten liegen. Ein erstes Warnzeichen war die Selbstmandatierung der NATO für ein militärisches Handeln im Kosovo. Ein militärisches Eingreifen ohne ein von den Vereinten Nationen erteiltes Mandat welcher Art auch immer ist ein völkerrechtlicher Ursündenfall. Man öffnet eine Pandorabüchse, denn man schafft einen Präzedenzfall für derartige „friedensfördernde Eingriffe“, die andere aus ganz anderen Motiven ausführen könnten. Damit rudert man die völkerrechtliche Entwicklung in die falsche Richtung, nämlich rückwärts. Man muß sehen, daß es nach dem Westfälischen Frieden in Europa ein allgemeines Recht zum Kriege gab. Es war Teil der Souveränität, daß Staaten Kriege führen durften. In unserem Jahrhundert hat die Diplomatie sehr viel Mühe darauf verwandt, diese Rechtslage zu ändern und den Einsatz militärischer Gewalt nur noch unter zwei Umständen zuzulassen, nämlich zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen und unter einem Mandat des Sicherheitsrats. Das ist ein Maß an Zivilisierung der Staatenbeziehungen, hinter das zurückzufallen sich im Moment aus Opportunitätsgründen aufdrängt, weil der Westen, weil die Vereinigten Staaten, weil die NATO eine Militärmacht ohne Herausforderung besitzen. Langfristig entspricht dieses Verfahren jedoch nicht unseren Interessen an einer konsequenten Stärkung des Völkerrechts.

Nun erhebt sich die berechtigte Frage: Muß man selbst einem Völkermord zusehen, wenn Rußland oder China ein Veto aussprechen? Nein, es gibt ein längst vergessenes völkerrechtliches Mittel, welches das Veto umgeht. Das ist die sogenannte Uniting for Peace Resolution, mit der die Generalversammlung der Vereinten Nationen sich selbst in die Rolle des Sicherheitsrates versetzt, wenn in ganz besonders kritischen Lagen für Frieden und internationale Sicherheit der Sicherheitsrat versagt. In diesem Fall ergreift sozusagen die Generalversammlung das vom Sicherheitsrat fallengelassene Banner und zieht die Sache an sich. Die Generalversammlung kann niemanden verpflichten, militärische Mittel einzusetzen, aber sie kann in einer Resolution die Mitglieder auffordern, Mittel zur Abhilfe zu ergreifen, die nötig sind. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren hat es Präzedenzfälle gegeben, unter anderem in Korea und im Kongo. Dieser Faden könnte jederzeit wieder aufgenommen werden.

Schließlich ist auch daran zu denken, in einer Weiterentwicklung des Völkerrechts Mandate regionaler Organisationen als hinreichende Rechtsgrundlage anzuerkennen, um im Kompetenzbereich dieser Organisationen - innerhalb, nicht außerhalb ihrer territorialen Grenzen - eingreifen zu können. Die OSZE könnte in diesem Sinne, ihre satzungsmäßigen Regeln bewußt überschreitend, ein Eingreifen im Kosovo legitimieren. Die NATO kann dies nicht, da das Gebiet außerhalb der Bündnisgrenzen liegt.


Macht und Recht: Die Strafaktion gegen den Irak

Unsere Rechts- und Wohlfahrtsstaaten haben ein vitales Interesse, das Völkerrecht und die Internationalen Organisationen zu stärken. Das ist der ihren Verfassungen gemäße Weg, die internationalen Beziehungen zu ordnen. Militärische Macht ist der letzte Garant dieser Ordnung, muß aber dem Recht dienen und nicht über ihm stehen. Daß die USA, in der Vergangenheit wichtigster Förderer des Völkerrechts und der Internationalen Organisationen, heute zum Totengräber ihrer „Babys“werden, ist eine schreckliche Verirrung.

Maßgeblich sind vielmehr zwei tiefergreifende Umstände. Erstens sind die Möglichkeiten der unbestreitbaren Hegemonie der USA einzigartig. Aber diese Überlegenheit ließe sich auch behutsam und weise nutzen. Hinzu kommt zweitens eine brutale Ablehnung des Multilateralismus durch die provinzielle Rechte, die im Kongreß das Sagen hat, und ein damit einhergehender chauvinistischer Unilateralismus, der außer vermeintlichen amerikanischen Interessen keinen außenpolitischen Maßstab kennt und jedem anderen Instrument als dem Militär mißtraut. Unter diesem Druck hat sich die Clinton-Administration vom erklärten Multilateralismus (1993) weg bewegt, und sind die Unilateralisten im Pentagon und im Nationalen Sicherheitsrat stark geworden.

Je mehr die USA ihren unbeugsamen Willen zum Alleingang demonstrieren und wieder das „Recht zum Krieg“ der Souveräne hochhalten, das seit der Völkerbundsatzung Schritt für Schritt geächtet zu werden schien, desto weniger werden China und Rußland bereit sein, im Sicherheitsrat Kompromisse zu schließen. Die Welt, auf die dieser Prozeß zuläuft, ist die des Faustrechts. Gegensteuern ist nötig.

Für die deutsche Außenpolitik geht es hier nicht nur um Opportunitätsabwägungen. Hier geraten zwei deutsche Grundinteressen, ja, Elemente der nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam erkämpften neuen deutschen Identität in Konflikt: die Westbindung und die feste Allianz mit den USA auf der einen Seite und die unbedingte deutsche Bindung ans Völkerrecht auf der anderen Seite.

Ich fasse die Überlegungen an dieser Stelle zusammen: Multilateralismus und die Unterstützung des Ausbaus, der Vertiefung und der vermehrten Geltung des Völkerrechts sind keineswegs nur eher zufällige oder gar idiosynkratische Formen, in denen deutsche Außenpolitik sich bewegt. Sie sind vielmehr selbst substantielle, materiale Inhalte dieser Außenpolitik.

Aus »Macht und Ohnmacht - Deutsche Außenpolitik vor dem Ende?« Vortrag von Harald Müller vor der Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog, 1999.

  Wer will, wenn die beiden parallelen Kriege, die in Jugoslawien mit denselben Waffen ausgetragen werden, selbst in einen unausweichlichen Widerspruch miteinander geraten (und in diesem noch verborgenen und unausgesprochenen Widerspruch zur Nato steht nicht Deutschland allein) und schließlich öffentlich in Erscheinung treten, noch die Gewähr dafür übernehmen, daß die Nato auch in einem Jahr noch ihren Jahrestag begehen wird?