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Kann es gerechte Kriege geben?

Eine philosophische Auseinandersetzung am Beispiel des NATO-Einsatzes in Jugoslawien / Von David Lutz (Forschungsinstitut für Philosophie Hannover)

Vortrag gehalten am 18. Juni 2001 im Rahmen von Reflex: Institut für Praktische Philosophie Hannover

 

 Obwohl eine Mehrheit der Staatsbürger der NATO-Länder glaubt, daß es richtig war, 1999 die Bundesrepublik Jugoslawien zu bombardieren, ist die Frage keineswegs unumstritten. Jürgen Habermas brachte seine Ansicht wie folgt zum Ausdruck:

 Von Mord, Terror und Vertreibung waren im Kosovo schon in den Monaten vor dem Beginn der Luftangriffe etwa 300 000 Personen betroffen. Inzwischen liefern die erschütternden Bilder von den Vertriebenentrecks auf den Routen nach Mazedonien, Montenegro und Albanien die Evidenzen für eine von längerer Hand geplante ethnische Säuberung. Daß die Flüchtenden auch wieder als Geiseln zurückgehalten werden, macht die Sache nicht besser. Obwohl Milosevic den Luftkrieg der Nato benutzt, um seine elende Praxis bis zum bitteren Ende zu forcieren, können die niederdrückenden Szenen aus den Flüchtlingslagern den kausalen Zusammenhang nicht verkehren. Es war schließlich das Ziel der Verhandlungen, einen mörderischen Ethnonationalismus zu stoppen. Ob die Grundsätze der Völkermordkonvention von 1948 auf das, was jetzt unter der Kuppel des Luftkrieges am Boden geschieht, Anwendung finden, ist kontrovers. Aber einschlägig sind die Tatbestände, die als “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” aus den Leitsätzen der Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg und Tokyo ins Völkerrecht eingegangen sind. Seit kurzem behandelt der Sicherheitsrat auch diese Tatbestände als “Friedensbedrohungen”, die unter Umständen Zwangsmaßnahmen rechtfertigen. Aber ohne Mandat des Sicherheitsrats können die Interventionsmächte in diesem Fall nur aus den erga omnes verpflichtenden Grundsätzen des Völkerrechts eine Ermächtigung zur Hilfeleistung ableiten.[i]

 Im Gegensatz dazu behauptete Noam Chomsky:

 Wie vorauszusehen war, führte die Drohung mit der NATO-Bombardierung zu einer heftigen Eskalation der Greueltaten durch die serbische Armee und die paramilitärischen Verbände und zur Abreise der internationalen Beobachter, die natürlich die gleiche Wirkung erzielte. Der NATO-Oberbefehlshaber, General Wesley Clark, erklärte, daß es “völlig voraussagbar” gewesen sei, daß serbischer Terror und Gewalt nach der NATO-Bombardierung sich verschärfen würden, und genau das geschah. [...] Trotz der verzweifelten Versuche von Ideologen, zu beweisen, daß Kreise quadratisch sind, gibt es keinen ernsthaften Zweifel, daß die NATO-Bombardierung die verbleibende, zerbrechliche Struktur des internationalen Rechts weiter unterminieren. [...] Die USA haben eine Vorgehensweise gewählt, die, wie sie unverhüllt zugeben, Greueltaten und Gewalt ausweitet – “voraussagbar”; eine Vorgehensweise, die dem Regime der internationalen Ordnung, das den Schwachen wenigstens ein bißchen Schutz vor beutegierigen Staaten bietet, einen weiteren Schlag versetzt. Ein Standardargument ist, daß wir etwas tun mußten: wir konnten nicht einfach zusehen, während die Greueltaten andauerten. Das ist niemals wahr. Wir haben immer die Wahl, dem Hippokratischen Grundsatz zu folgen: “Erstens: füge keinen Schaden zu!” Wenn man keinen Weg finden kann, dieses fundamentale Prinzip zu befolgen, sollte man nichts tun. Es gibt immer andere Möglichkeiten, die in Betracht kommen. Diplomatie und Verhandlungen sind niemals zu Ende.[ii]

 Wie können wir uns zwischen diesen Auffassungen entscheiden? Es gibt eine lange philosophische Tradition, nämlich die des gerechten Krieges, deren Wurzel mindestens bis zu Cicero reichen: danach ist ein Krieg gerechtfertigt, wenn und nur dann, wenn er bestimmten Kriterien entspricht. Aber während der Vorbereitung zu diesem Krieg wurde die Theorie des gerechten Krieges kaum diskutiert. Im Mai 1999 schrieb Präsident William Clinton einen Essay zur Rechtfertigung dieses Krieges, der in der New York Times unter dem Titel “Ein gerechter und notwendiger Krieg” erschien.[iii] Aber in dem Text selbst kann man keine Erwähnung der Kriterien des gerechten Krieges finden.

 

Die Theorie des gerechten Krieges

 

Die Tradition des gerechten Krieges unterscheidet zwischen den Kriterien des Rechts zum Kriegseintritt, jus ad bellum, und den Kriterien der Gerechtigkeit im Krieg, jus in bello. Die Kriterien des ersteren entscheiden, ob es gerechtfertigt ist, einen Krieg zu beginnen. Die des letzteren entscheiden, wie in einem gerechten Krieg gekämpft werden muß.

 Es gibt fünf Kriterien des jus ad bellum:

 Erstens muß ein gerechtfertigter Krieg einen gerechten Grund haben. Der einzige traditionelle Grund eines gerechten Krieges ist die Notwehr. Auf sie beruft man sich zu Recht, um die Einheit des Staats oder das Leben seiner Staatsbürger zu verteidigen, wenn sie angegriffen oder klar bedroht sind. Heute ist es auch allgemein anerkannt, daß ein Staat das Recht hat, einen Nachbarstaat vor einem anderen feindlichen Staat zu schützen. In der letzten Zeit versuchten einige Denker, dieses Recht um die Verteidigung eines Nachbarn zu erweitern, um humanitäre Eingriffe einzuschließen.[iv]

 Zweitens muß ein gerechter Krieg von einer legitimen Autorität erklärt werden. Eine legitime Autorität hat Verantwortung für das allgemeine Wohl und ist normalerweise die Regierung eines Staats. Private Individuen und Gruppen sind nicht berechtigt, einen Krieg zu erklären. Laut Artikel 42 der Charta der Vereinten Nationen darf auch der Sicherheitsrat “mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen.”

 Drittens: um gerechtfertigt zu sein, muß eine Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, mit einer rechten Absicht getroffen werden. Diese muß die Absicht sein, den Frieden zu förden oder wiederherzustellen. Jede andere Absicht, z.B. Rache, Herrschaft, wirtschaftlicher Gewinn usw., ist falsch.

 Viertens darf ein gerechter Krieg nur als das letzte Mittel sein. Alle nicht-militärischen alternativen Mittel müssen ausgeschöpft worden sein. Solange politische Mittel zur friedlichen Lösung noch bestehen, z.B. Diskussion, Verhandlungen, wirtschaftliche Sanktionen usw., kann keine militärische Waffengewalt gerechtfertigt werden.

 Schließlich muß ein gerechtfertiger Krieg eine vernünftige Hoffnung auf Erfolg haben. Wenn es keine ausreichend hohe Wahrscheinlichkeit gibt, daß das gerechte Ziel des Krieges erreicht wird, ist es unmoralisch, Zerstörung und Vernichtung zu verursachen. Ein aussichtsloser Widerstand ist nicht gerecht. Außerdem muß man, um die Aussichten auf Erfolg einschätzen zu können, zuerst einmal eine klare, konkrete Vorstellung davon haben, worin der Erfolg bestehen sollte.

 Es gibt zwei Kriterien des jus in bello:

 Erstens muß die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten eingehalten werden. Man darf keine Nichtkämpfenden und nicht-militärische Ziele absichtlich vernichten und muß versuchen, ihnen nicht unabsichtlich zu schaden. Mit anderen Worten, man muß versuchen, den “Kollateralschaden” zu minimieren. Freilich gibt es Fälle, in denen nur schwer zwischen militärischer und nicht-militärischer Angriffsfläche unterschieden werden kann.

 Zweitens muß eine angemessene Verhältnismäßigkeit zwischen den Schäden und Kosten des Krieges und den guten Folgen bestehen, die dadurch erreicht werden sollen. Die Menge und Art der Kraft, die im Krieg eingesetzt wird, soll nicht größer sein, als benötigt wird, um den Krieg zu beenden und den Frieden wiederherzustellen. Die Übel, die der Krieg zufügt, dürfen nicht größer sein als das Unrecht, das er beseitigen soll. Kein Staat soll einen Krieg führen, ohne an die langfristigen Folgen für alle Betroffenen zu denken.

 Nach der Theorie des gerechten Krieges kann ein Staat in den Krieg zu Recht nur ziehen, wenn alle diese Kriterien erfüllt sind. Ich werde nun versuchen, möglichst objektiv unparteilich festzustellen, ob der Krieg zwischen der NATO und der Bundesrepublik Jugoslawien im Jahre 1999 diesen Kriterien entsprach.

  

War der Kosovo Krieg gerecht?

Gerechter Grund

 Da Jugoslawien keinen anderen Staat angriff oder bedrohte, kann weder Notwehr noch die Verteidigung eines Nachbarstaats der rechtfertigende Grund des Krieges sein. Nach Artikel 2 der Satzung der Vereinten Nationen unterlassen alle Mitglieder der UNO “in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete [...] Androhung oder Anwendung von Gewalt.” Und laut Artikel 1 ist es ein Ziel der Vereinten Nationen, “Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken”. Die NATO-Bombardierung entsprach der Definition einer “Angriffshandlung” oder eines “Aktes der Aggression”, weil sie die Souveränität der Bundesrepublik Jugoslawien verletzte. Es ist relativ unbestritten, daß dieser Krieg völkerrechtswidrig war. Aber das entscheidet die Frage noch nicht, ob er unmoralisch war.

 Unsere Verantwortung, Gesetze zu befolgen, ist nicht unbedingt. Manchmal haben wir sogar die ethische Pflicht, ein Gesetz zu übertreten. Überdies ist, wie Augustinus sagte, ein ungerechtes Gesetz kein Gesetz. Es gibt eine Tradition des zivilen Ungehorsams. In den Vereinigten Staaten führte die Weigerung, Gesetze zu befolgen, die die Diskriminierung von Schwarzen verlangten, dazu, daß diese Gesetze geändert wurden.

 Das Prinzip der nationalen Souveränität ist nach wie vor wichtig in unserer Zeit der Globalisierung. Aber wenn es möglich gewesen wäre, das Leben von 500.000 Ruandern zu retten, ohne andere Unschuldige zu töten, wäre es gerechtfertigt gewesen, in diesem Land einzugreifen, und zwar auch ohne die Erlaubnis der ruandischen Regierung und ohne eine Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.

 Die Frage ist, ob der Zustand im Kosovo so ernst war, daß ein Verstoß gegen das internationale Gesetz gerechfertigt war. Außenminister Joschka Fischer erklärte: “Ich habe nicht nur gelernt, ‘Nie wieder Krieg’, sondern auch, ‘Nie wieder Auschwitz’.” Inwieweit war diese Anspielung auf Auschwitz passend?

 Die Situation im Kosovo vor der Bombardierung kann zu Recht als ein Bürgerkrieg bezeichnet werden. Die sogenannte Kosovo-Befreiungsarmee (UGK) war eine Terroristengruppe, die teilweise durch den Verkauf illegaler Drogen finanziert wurde. Ihre Soldaten ermordeten serbische Polizisten. Ihr Ziel war die Unabhängigkeit des Kosovo. Die Serben reagierten brutal. Beide Seiten richteten Zivilisten hin. Beide Seiten übten Vergeltung an Greueltaten der anderen Seite. Und “die Kosovo-Serben und Kosovo-Albaner verwandten beide das Wort ‘Genozid’, um zu beschreiben, was ‘ihren Völkern’ im Kosovo passierte.”[v]

 Das serbische “Massaker von Racak” am 15. Januar 1999 war ein Wendepunkt für diejenigen Politiker, die sich entschieden, einen Krieg gegen Jugoslawien zu führen. Nach der New York Times wurden am 16. Januar “die Leichen von mindestens 45 Bauern und ihren Kinder an den Hängen und auf den Höfen im Dorf Racak entdeckt. [...] Ein Foto davon zeigte ein totes Kind, das einen Schnuller hielt.”[vi] In Wirklichkeit gab es weniger als 45 Leichen, und es waren keine Kinder darunter. Zudem waren diese Morde die Folge einer häufig angewandten Taktik der UGK. Am 8. Januar ermordeten Rebellen der UGK aus dem Hinterhalt in der Nähe von Racak drei serbische Polizisten und am 10. Januar brachten sie einen vierten Polizisten um. Sie provozierten absichtlich serbische Greueltaten, und hinterher verteidigten sie die kosovo-albanischen Zivilisten nicht, um eine internationale Opposition gegen Milosevic zu entfachen.

 Laut Verteidigungsminister Rudolf Scharping wurde ein Konzentrationslager während des Krieges in einem Fußballstadion in Pristina eingerichtet. Aber ein kosovarischer Politiker, Shaban Kelmendi, dessen Wohnung direkt am Stadion liegt, berichtete: “Es hat damals dort keinen einzigen Gefangenen oder eine Geisel gegeben. Das Stadion hat immer nur als Landeplatz für Helikopter gedient.”[vii]

 Im April 1999 meldeten Fischer und Scharping, daß sie aus Geheimdienstquellen über die “Operation Hufeisen” erfahren hatten, einem Plan zur systematische Vertreibung und Säuberung der Kosovo-Albaner. Die Washington Post berichtete:

 Der österreichische Geheimdienst hatte neulich [d.h., kurz vor dem “Massaker von Racak”] seine Entdeckung an die NATO weitergegeben, daß Belgrad eine größere Frühlingsoffensive mit dem Deckname “Operation Hufeisen” plante. Nachfolgende Geheimdienst-Meldungen schätzten, daß sie zwischen Mitte März und Anfang April durchgeführt wurde. [...] Am 16. März schickte die CIA eine Meldung an höhere Entscheidungsträger: “Kosovo – serbische Offensive steht bevor”. Zwei Tage später unterschrieben die Kosovo-Albaner endlich die vorgeschlagene Übereinkunft. Nach Einschätzung der Geheimdienste war dieser Tag der Anfang von Operation Hufeisen.[viii]

 Im Oktober 1999 sagten Verteidigungsminister William Cohen und der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs General Henry Shelton dem amerikanischen Senat: “Milosevics Entscheidung, Operation Hufeisen Anfang März durchzuführen, führte zu der systematischen “Säuberung” von 850,000 ethnischen Albanern aus dem Kosovo.”[ix] Aber heute wissen wir, daß der Hufeisenplan nicht in Belgrad, sondern in Bonn geschrieben wurde. Der Name des Plans lautete angeblich “Potkova”, was nicht das serbische, sondern das kroatische Wort für “Hufeisen” ist.[x]

 Brigadegeneral der Bundeswehr Heinz Loquai war von 1996 bis 2000 Militärberater der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien. Weil er öffentlich sagte, “daß der Verteidigungsminister bei dem, was er über den Hufeisenplan sagt, nicht die Wahrheit sagt,”[xi] mußte er 2000 die OSZE verlassen. General a. D. Loquai berichtet, daß nach dem Krieg im Verteidigungsministerium ihm gesagt wurde, “es habe kein ‘Operationsplan Hufeisen’ vorgelegen, sondern was man hatte, war eine Darstellung der Ereignisse, die im Kosovo abgelaufen sind, und diese Darstellung der Ereignisse konnte man aufgrund der OSZE-Berichte und anderer Berichte nachvollziehen.”[xii]

 Mit Bezug auf die Frage, ob die Situation im Kosovo vor dem Krieg einer humanitären Katastrophe gleich kam, schreibt General Loquai:

 Scharping hat das Parlament falsch informiert. Nimmt man die tatsächliche Lage in der Provinz als Grundlage eines Urteils, so kann man feststellen, daß noch weniger als im Oktober 1998 im März 1999 eine Situation vorlag, die den Beginn eines Luftkrieges gegen Jugoslawien mit der Begründung der Abwehr einer humanitären Katastrophe rechtfertigte.[xiii]

 Die humanitäre Krise fing erst an, als die NATO zu bombardieren begann. Und über den Vergleich zwischen Kosovo und Auschwitz, sagt Loquai:

 Daß gerade deutsche Politiker diesen Vergleich angestellt haben, finde ich ungeheuerlich. Damit werden die Verbrechen der Nazis an den Juden in einer Art und Weise verharmlost, die man sonst als “Auschwitzlüge” bezeichnet. Wenn ein normaler Bürger in Deutschland das tun würde, müßte er mit einem Gerichtsverfahren rechnen.[xiv]

 Vor dem Anfang der Bombardierung kostete der Bürgerkrieg im Kosovo ungefähr 2.500 Menschenleben. Als mehrere Staaten der USA versuchten, ihre Unabhängigkeit zu erreichen, zog Präsident Abraham Lincoln in einen Krieg, in dem mehr als 600.000 Menschen ums Leben kamen. Lincoln gilt heute als großer Held. (Der amerikanische Bürgerkrieg hatte weniger mit der Sklaverei als man heute gewöhnlich meint und mehr mit der Erhaltung der Einheit des Landes zu tun.) Amerikanische Soldaten ermordeten viel mehr vietnamesische Zivilisten, als serbische Soldaten nichtkämpfende Kosovo-Albaner ermordeten. Die USA ermöglicht zur Zeit Israel, eine Politik gegen die Palästinenser durchzuführen, die mindestens so unmoralisch ist, wie die Politik der Serben gegen die Kosovo-Albaner. In den letzten fünfzehn Jahren führte die ethnische Säuberung im Gebiet der Kurden von seiten der türkischen Regierung zu mehr als 30.000 Toten. Aber die Türkei ist ein NATO-Mitgliedstaat und ein strategischen Allierter der USA. Infolgedessen sind die Kurden nicht Freiheitskämpfer, sondern Terroristen.[xv]

 Die jugoslawische Regierung unter Milosevic war äußerst schlimm. Aber der Zustand gab der NATO im März 1999 keine Rechtferigung, in einen souveränen Staat einzugreifen und sich auf die eine Seite des Bürgerkrieges zu stellen. Und obwohl es in bestimmten Fällen moralisch zulässig oder sogar geboten sein kann, gegen das Gesetz zu verstoßen, schafft die Mißachtung internationalen Rechts einen gefährlichen Präzedenzfall.

 

Legitime Autorität

 Kein NATO-Land erklärte 1999 Jugoslawien den Krieg. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die USA niemals einen Krieg erklärt – sondern nur gekämpft. Nach der amerikanischen Verfassung hat nur der Kongreß das Recht, einen Krieg zu erklären. Aber seit 1950, als Präsident Harry Truman entschied, in den Koreakrieg ohne Kriegserklärung einzutreten, übernahmen die Präsidenten praktisch dieses Recht. Ein Grund dafür soll sein, daß einige Situationen so dringend sind, daß der Präsident keine Zeit hat, auf die Zustimmung des Kongresses zu warten. Mit anderen Worten: die amerikanische Verfassung ist ein “lebendiges Dokument”.

 Als Reaktion auf den unerklärten und ungerechten Vietnamkrieg verabschiedete der Kongreß 1973 den War Powers Act, nach dem gilt:

 Bei Nichtvorliegen einer Kriegserklärung soll in jedem Fall, in dem bewaffnete Streitkräfte der Vereinigten Staaten in Feindseligkeiten eingesetzt werden, [...] der Präsident innerhalb von achtundvierzig Stunden dem Sprecher des Repräsentantenhauses und dem Präsidenten pro tempore des Senats einen schriftlichen Bericht vorlegen, der die Umstände, die den Einsatz von Truppen erforderlich machten, die verfassungsmäßige und gesetzgebende Autorität, unter der der Einsatz stattfand, und die geschätzte Größe und Dauer der Feindseligkeiten oder Beteiligung darlegt. [...] Wenn der Kongreß weder den Krieg erklärt hat noch eine Sondergenehmigung für den Einsatz von Truppen erlassen hat, noch infolge eines bewaffneten Angriffs gegen die Vereinigten Staaten physisch unfähig ist, zu tagen, soll der Präsident innerhalb von sechzig Kalendertagen jeden Einsatz der bewaffneten Streitkräfte der Vereinigten Staaten beenden.[xvi]

 Während der Kosovo-Feindseligkeiten, die achtundsiebzig Tage dauerte, überschritt Präsident Clinton den Sechzig-Tage-Termin.

 Die NATO erklärte diesen Krieg nicht, und sie hatte auch keine Autorität, ihn zu erklären. Nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags gilt:

 Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.

 Jugoslawien hatte einen NATO-Mitgliedstaat weder angegriffen noch damit gedroht, das zu tun. Die NATO wurde als ein Verteidigungspakt gegründet. Von 1949 bis 1991 war sie erfolgreich. 1999 wurde sie ein Angriffsbündnis, ohne eine entsprechende Berechtigung in ihrem grundlegenden Dokument. Folglich ist klar, daß dieser Krieg von keiner legitimen Autorität erklärt wurde.

 

Rechte Absicht

 Die Person, die am meisten nach der Bombardierung strebte, war die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright. General Colin Powell berichtet, daß Albright ihn, als er noch der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs war, fragte: “Was nützt es, dieses erstklassige Militär zu haben, von dem Sie immer sprechen, wenn wir es nicht einsetzen dürfen?”[xvii] General Powell, der mehr oder weniger in der Tradition des gerechten Krieges steht, glaubt, daß man das Militär nur einsetzen soll, um die Vereinigten Staaten, ihre vitalen Interessen oder ihre Alliierten zu verteidigen. Im Gegensatz dazu hatte Albright seit langem ein Interesse daran, mit amerikanischen bewaffneten Streitkräften in anderen Ländern einzugreifen.

 1996 fragte Lesley Stahl, eine amerikanische Journalistin, Albright, ob es sich gelohnt habe, daß eine halbe Million irakischer Kinder als Folge der wirtschaftlichen Sanktionen gestorben sind. Albright antwortete: “Dies ist eine schwierige Entscheidung, aber ich glaube – wir glauben, daß es sich lohnte.”[xviii] Es ist schwer zu glauben, daß eine Person, die das sagen konnte, ein großes Interesse am Frieden hat.

 Im Vorfeld des Kosovokrieges betonte Albright häufig, daß sie eine Gegnerin der Beschwichtigungs-Politik sei. Sie wurde 1937 in der Tschechoslawakei als Marie Jana Korbelova geboren. Sie ist Jüdin und drei von ihren Großeltern starben im Holocaust. Sie verglich Slobodan Milosevic mit Adolf Hitler und bezog sich mehrfach auf die Appeasement-Politik von Neville Chamberlain gegenüber Hitler. Sie erklärte:

 Meine Denkart ist durch München geprägt; diejenige der Mehrheit meiner Generation durch Vietnam. Ich sah, was passierte, als einem Diktator erlaubt wurde, ein Land zu besetzen; das Land ging zugrunde. Und ich sah während des Krieges das Gegenteil, als Amerika am Kampf teilnahm. Für mich ist Amerika wirklich die unentbehrliche Nation.[xix]

 Als auf einer NATO-Tagung darüber diskutiert wurde, wie die Drohung an die Serben zu formulieren sei, und einige europäische Außenminister dabei eine Änderung in der Wortwahl vorschlugen, flüsterte ein Berater von Albright ihr zu, daß er glaube, daß die Amerikaner die Änderung annehmen könnten. Mit lauter Stimme antwortete sie: “Wir können sie nicht annehmen. Glaubst du, daß du in München bist?”[xx]

 Gewiß sollen wir aus den geschichtlichen Fehlern lernen. Wie George Santayana mit Recht sagte: “Diejenigen, die sich nicht an ihre Geschichte erinnern können, sind verurteilt, sie zu wiederholen.” Aber man darf sich nicht nur an die Lehren der Geschichte erinnern, sondern man muß sie auch auf die gegenwärtigen Zustände richtig anwenden. Selbst wenn Milosevic genau so böswillig wie Hitler wäre, waren die Zustände im Jahre 1938 und im Jahre 1999 doch sehr unterschiedlich. Außerdem ist es falsch zu sagen, daß es im Jahre 1938 die richtige Lösung gewesen wäre, Deutschland zu bombardieren. Wenn man die Serbien- und Kosovopolitik als eine Möglichkeit ansieht, die Appeasement-Politik gegnüber Hitler wiedergutzumachen, dann wird es schwierig, eine friedliche Lösung zu sehen.

 Einige Amerikaner glauben, daß die Entscheidung, Jugoslawien zu bombardieren, viel mit Monica Lewinsky zu tun hatte. Man muß sich in Erinnerung rufen, daß Clinton es für nötig befand, im August 1998 den Sudan und Afghanistan zu bombardieren, als Lewinsky eine Zeugenaussage abgab, die seiner eigenen widersprach, und im Dezember 1998 den Irak zu bombardieren, einen Tag vor dem Beginn des Amtsenthebungsverfahren im Repräsentantenhaus. Er wurde damals von der Zwangsvorstellung des sogenannten Clinton-Vermächtnisses befallen. Es wäre unangenehm, wenn es in den Geschichtsbüchern einmal heißen würde, er sei aus dem Amt entfernt worden. Ein außenpolitischer Erfolg wäre deshalb sehr willkommen gewesen.

 Am 23. März 1999 sagte Präsident Clinton in einer Rede in Washington folgendes:

 Wenn wir starke wirtschaftliche Beziehungen haben werden, die unsere Fähigkeit einschließen, rund um die Welt zu verkaufen, muß Europa ein Schlüssel sein. Und wenn wir wollen, daß Leute unsere Lasten der Führung teilen, mit allen Problemen, die zwangsläufig auftauchen werden, muß Europa unser Partner sein. Nun, das ist die Bedeutung dieser Kosovo-Geschichte.[xxi]

 Es wäre schwer, diese Bemerkungen als vereinbar mit einer rechten Absicht im Sinn der Tradition des gerechten Krieges zu verstehen. Es wäre ungerecht, Menschen zu töten, um Möglichkeiten für den Welthandel zu erweitern. Leider haben wirtschaftliche und politische Gründe oft viel mehr als ethische Gründe mit der Entscheidung zu tun, in den Krieg zu ziehen.

 

Letztes Mittel

 Am 26. März 1999 behauptete Bundeskanzler Gerhard Schröder: “Der Bundesaußenminister [und] die Bundesregierung [...] haben in den letzten Wochen und Monaten nichts, aber auch gar nichts unversucht gelassen, eine friedliche Lösung des Kosovo-Konfliktes zu erzielen.”[xxii] Um festzustellen, ob vor dem Anfang der Bombardierung alle nicht-militärischen alternativen Mittel ausgeschöpft wurden, muß man an die Verhandlungen herangehen, die vom 6. bis 23. Februar in Rambouillet und vom 15. bis 19. März in Paris stattfanden. Das bedeutendste Dokument dieser Gespräche ist Anhang B des “Rambouillet-Abkommens”, der von der Bundesrepublik Jugoslawien verlangte, den Soldaten der NATO zu erlauben, nicht nur im Kosovo, sondern auch in Serbien selbst einzumarschieren, und der erst nach dem Anfang der Bombardierung veröffentlicht wurde:

 Das NATO-Personal wird mit seinen Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen und Ausrüstungsgegenständen in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien freien und ungehinderten Zugang genießen, unter Einschluß ihres Luftraums und ihrer Territorialgewässer. Dies schließt das Recht ein, beschränkt sich aber nicht darauf, Zeltlager zu errichten, zu manövrieren, sich einzuquartieren und alle Gebiete und Einrichtungen zu nutzen, die erforderlich sind für Unterstützung, Übung und Operationen.

 Diese Bedingung, die Jugoslawien erfüllen mußte, um die Bombardierung zu vermeiden, war unnötig, um die Verfolgung der Kosovo-Albaner aufzuhalten: Nach den elf Wochen der Bombardierung besetzte die NATO Serbien nicht. Diese Bedingung war nicht nur inakzeptabel und unnötig, sondern beweist, daß sie absichtlich übertrieben war. George Kenney, ehemaliger Beamter des amerikanischen Außenministeriums, der 1992 von seinem Amt aus Protest gegen die Balkanpolitik der Bush-Regierung zurücktrat, schrieb folgendes:

 Eine absolut zuverlässige Informationsquelle, die mit Außenministerin Madeleine Albright ständig reist, sagte mir, daß ein höherer Beamter des Außenministerium, der die Journalisten auf Geheimhaltung einschwor, bei den Rambouillet-Gesprächen prahlte, daß die Vereinigten Staaten “die Latte absichtlich höher legten, als die Serben annehmen konnten”. Nach diesem Beamten brauchten die Serben ein bißchen Bombardierung, um zur Einsicht zu kommen. Viele Kritiker nahmen schon an, daß die Vereinigten Staaten einen Vorwand für die Bombardierung schufen – das schien mehr als deutlich aus dem heuchlerischen Rambouillet-Plan hervorzugehen, der in seinem militärischen Anhang B etwas verlangte, was der bedingungslosen Kapitulation von Jugoslawien entsprochen hätte – aber es ist doch erstaunlich, einen höheren Beamten über einen vorsätzlichen amerikanischen Plan prahlen zu hören, den Angriff zu rechtfertigen.[xxiii]

 Die “Rambouillet-Verhandlungen” waren eigentlich keine Verhandlungen, weil Jugoslawien nur zwei Möglichkeiten hatte: entweder zu unterschreiben oder bombardiert zu werden. James Rubin, ein Berater von Albright, bestätigt, daß es nicht das Ziel der Amerikaner war, eine nicht-militärische Lösung zu finden, die jede Partei bei dem Abkommen hätte annehmen können, sondern für den Luftkrieg die nötige Vorarbeit zu leisten: “Wir machten uns keine Illusionen darüber, daß die Serben schnell unseren Forderungen nachgeben und alles in Rambouillet lösen würden. Es war unsere höchste Priorität, die Europäer dazu zu bringen, sich vereint hinter die Luftschläge zu stellen, indem wir den Aggressor und das Opfer klar definerten.”[xxiv] Infolgedessen waren die Möglichkeiten für eine friedliche Lösung nicht ausgeschöpft worden.

 

Vernünftige Hoffnung auf Erfolg

 Um die Hoffnung auf Erfolg in diesem Krieg einzuschätzen, müssen wir dessen Erfolg festlegen. Am Anfang des Krieges erklärte Clinton:

 Unsere Luftschläge haben drei Ziele. Erstens, die Ernsthaftigkeit des Widerstands der NATO gegen Aggression und ihre Unterstützung des Friedens zu zeigen. Zweitens, Präsident Milosevic davon abzuschrecken, seine Angriffe gegen hilflose Zivilisten fortzusetzen und auszuweiten, indem diese Angriffe bestraft werden. Und drittens, wenn nötig, Serbiens künftige Fähigkeit, in den Krieg zu ziehen, zu schaden, indem dessen militärisches Leistungsvermögen ernstlich vermindert werden.[xxv]

 Was das erste Ziel angeht, so wäre es äußerst schwer gewesen, den Widerstand der NATO gegen Aggression durch einen Luftangriff zu bezeugen, weil eben sie, nicht die unverzeihlichen Handlungen der jugoslawischen Sicherheitskräfte, der Definition von “Aggression” entsprachen. Und es wäre genau so schwer gewesen, dadurch eine Unterstützung des Friedens zu bezeugen, weil nicht alle friedlichen Alternativen zur Lösung des Problems ausgeschöpft wurden. Was das zweite Ziel angeht, so war es voraussehbar, daß die Entfernung der internationalen Beobachter aus dem Kosovo und die Aussage, daß Bodentruppen nicht eingesetzt würden, Milosevic grünes Licht geben würde, seine Angriffe gegen hilflose Zivilisten zu forcieren. Was das dritte Ziel angeht, so war es militärisch gesehen sehr unwahrscheinlich, das militärische Leistungsvermögen Serbiens durch einen Luftangriff ernstlich zu schädigen. Wie Michael Ignatieff richtig schreibt: “Die mächtigsten Luftstreitkräfte der Welt waren unfähig, Milosevics’ Heer im Felde zu zerstören.”[xxvi] Um dieses Ziel zu erreichen, hätte man Bodentruppen einsetzen müsssen. Folglich, wenn unter “Erfolg” die Erreichung dieser Ziele zu verstehen war, war die Hoffnung auf Erfolg sehr gering.

 Am Ende der Bombardierung sagte Clinton:

 Als ich unsere bewaffnete Streitkräfte in den Kampf befahl, hatten wir drei klare Ziele: den Völkern im Kosovo, die Opfer einiger der brutalsten Greueltaten seit dem Zweiten Weltkrieg sind, zu ermöglichen, in Sicherheit und Selbstverwaltung in ihre Heimat zurückzukehren; von den serbischen Kräften, die für diese Greueltaten verantwortlich sind, zu verlangen, den Kosovo zu verlassen; und internationale Sicherheitskräfte mit der NATO als ihrem Kern einzusetzen, um alle Menschen dieses unruhigen Landes, Serben wie Albaner, zu schützen.[xxvii]

 Diese drei Ziele unterscheiden sich von den drei Zielen, die Clinton am Anfang nannte. Die Rückkehr der kosovarischen Völker war kein ursprüngliches Ziel, da die meisten ihre Heimat noch nicht verlassen mußten. Es ist leicht, Ziele zu erreichen, wenn man sie verändern kann, damit sie den Ergebnissen entsprechen.

 Bis heute ist es nicht klar, was “Erfolg” in diesem Krieg bedeuten sollte. Die NATO erreichte die teilweise Zerstörung von Serbien. Wenn das das Ziel war, gab es eine vernünftige Hoffnung auf Erfolg. Aber es gibt heute im Kosovo keinen Frieden. Serben werden von Albanern umgebracht. Ausländische Soldaten müssen auf unbestimmte Zeit bleiben, um einen Ausbruch des Bürgerkrieges zu verhindern. Wenn dieser Zustand als “Erfolg” gelten sollte, dann wäre es schwer, sich ein Scheitern überhaupt noch vorzustellen.

 Loquai schreibt: “Die NATO bewertet ja die Ergebnisse des Krieges als einen großen Erfolg, obwohl sie eigentlich keines ihrer ursprünglichen politischen Ziele erreicht hat.”[xxviii] Und Michael Mandelbaum fängt die Ironie des NATO-“Erfolgs” ein:

 Die Albaner hatten auf Grund des Rechts auf nationale Selbstbestimmung für Unabhängigkeit gekämpft. Die Serben hatten im Namen der Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen dafür gekämpft, den Kosovo als Teil von Jugoslawien zu halten. Obwohl die NATO darauf bestand, daß Kosovo Autonomie gewährt werde, behauptete sie, daß Kosovo ein Teil von Jugoslawien bleiben müsse. Also griff das Bündnis in einem Bürgerkrieg ein und besiegte eine Seite, aber nahm bezüglich der Frage, über die der Krieg gekämpft worden war, den Standpunkt der Partei ein, die es besiegte.[xxix]

 

Unterscheidung

 Der Kosovo-Krieg war einzigartig, weil er seitens der NATO nur ein Luftkrieg war. Das ist allerdings nicht vollständig der Fall, weil die UGK teilweise die Rolle der NATO-Bodentruppen spielte. Aber er war fast ein reiner Luftkrieg. Die NATO hat keine Bodentruppen eingesetzt, um die Zahl der Verwundeten und Toten auf Seiten der NATO zu minimieren. Die NATO-Piloten flogen in großer Höhe, um die Gefahr, abgeschossen zu werden, zu reduzieren. Dieser Krieg war auch einzigartig, weil kein einziger NATO-Soldat von jugoslawischen Soldaten getötet wurde. Der Preis dieser Taktik war viel “Kollateralschaden”. Je höher die Piloten flogen, desto schwieriger war es, militärische von nichtmilitärischen Zielen zu unterscheiden. Militärisch gesehen ist ein reiner Luftkrieg merkwürdig, weil Bodentruppen nach herkömmlicher militärischer Lehre notwendig sind, um einen Krieg zu beenden. Zwar haben die Vereinigten Staaten 1945 den Krieg gegen Japan aus der Luft beendet, ohne in das Land einmarschieren zu müssen, aber nur indem sie zwei Großstädte zerstörten. Es ist sehr zweifelhaft, ob ein reiner Luftkrieg moralisch gut sein kann.

 Es ist auch sehr zweifelhaft, ob ein Krieg moralisch gut sein kann, in dem man zwar bereit ist, im Namen moralischer Werte Menschen umzubringen, aber nicht, das Leben der eigenen Soldaten zu opfern. In dem Diskurs der Militärethik wird die Moralität des Tötens viel häufiger diskutiert als die Moralität des Sterbens. Um von Soldaten verlangen zu können, Leib oder Leben zu opfern, muß man ihnen einen guten Grund nennen können, warum sie das tun sollten. Es gibt viele Soldaten, die verstehen können, daß es die Pflicht der kontributiven Gerechtigkeit sein kann, ihre Arme oder Beine oder gar ihr Leben zu opfern, um das eigene Land zu verteidigen, die aber nicht verstehen können, warum sie verletzt oder umgebracht werden sollen, um einen Bürgerkrieg in irgendeinem anderen Land zu verhindern. Das ist ein ethisches und militärisches Problem für Friedenssicherungsmissionen der Vereinten Nationen. Soldaten, die nicht verstehen, warum sie sterben sollen, kämpfen nicht mutig. Wenn die NATO Bodentruppen im Kosovo eingesetzt hätte, wäre es schwer gewesen, ihnen zu erklären, warum sie sterben sollten. Und wenn einige hundert NATO-Soldaten gestorben wären, wäre dieser Krieg nicht so populär in den NATO-Ländern gewesen. Deswegen hat die NATO einen Luftkrieg gekämpft – und viel Nebenschaden verursacht.

 

Verhältnismäßigkeit

 Es ist relativ leicht festzustellen, daß keine angemessene Verhältnismäßigkeit zwischen dem Schaden und den Folgen dieses Krieges besteht, weil während der elf Wochen der Bombardierung viel mehr Kosovo-Albaner starben oder aus ihrer Heimat fliehen mußten als im vorangehenden Jahr. Mit anderen Worten, selbst wenn der Krieg keinen Schaden verursacht hätte, hätte er diesem Kriterium nicht entsprochen, weil die Situation der Kosovo-Albaner durch ihn nicht verbessert, sondern verschlechtert wurde.

 Aber der Krieg verursachte überdies auch Schaden. Die 38.000 Lufteinsätze und 26.000 Bomben und Raketen töteten 500 bis 1.500 Zivilisten und verursachten mindestens DM 100 Milliarden Sachschaden. Der unabsichtliche “Kollateralschaden” schließt die Zerstörung oder Beschädigung von Häusern, Wohnhäusern, Krankenhäusern und eines Altenheims, die Zerstörung eines Omnibuses und eines Personenzuges, die zum falschen Zeitpunkt versuchten, Brücken zu überqueren, und mehrere Angriffe auf Flüchtlingskonvois ein. Die Zerstörung der Botschaft Chinas war wahrscheinlich auch unbeabsichtigt. Die zielgerichtete Vernichtung der zivilen Infrastruktur des Landes, einschließlich Brücken, Fabriken, Raffinerien, Wasser- und Elektrizitätswerken, führte gewaltiges Elend für die nichtmilitärische Bevölkerung herbei und richtete langandauernde Umweltschäden an. Heute haben drei Viertel der nicht-albanischen Bevölkerung Kosovos, etwa 200.000 Personen, die Provinz verlassen.

  

Ist die Theorie des gerechten Krieges noch relevant?

 

Es scheint mir klar zu sein, daß die Bombardierung des Kosovos keinem Kriterium der Theorie des gerechten Krieges entsprach. Und ich halte es für unbestreitbar, daß er alle Kriterien nicht erfüllte. Daraus schließe ich, daß entweder der Krieg ungerecht war oder die Theorie unzulänglich ist.

 In Westeuropa und Nordamerika haben wir, wenn wir entscheiden müssen, ob wir in den Krieg ziehen sollen, zur Zeit praktisch zwei Möglichkeiten: die Theorie des gerechten Krieges und die Demokratie. Es könnte scheinen, daß diese Behauptung einen Kategorien-Fehler begeht: Die Erstere ist eine Theorie der Moralität, die Letztere ist ein System der Politik; die Theorie des gerechten Krieges könnte innerhalb einer Demokratie angewandt werden, um die Moralität eines Krieges zu beurteilen. Aber die Theorie des gerechten Krieges und die Demokratie gehören zu zwei unterschiedlichen und unvereinbaren philosophischen Traditionen. Die Gerechtigkeit eines gerechten Krieges ist nicht Rawls’sche Gerechtigkeit, sondern die Kardinaltugend Gerechtigkeit.

 In Deutschland wird gewöhnlich die Demokratie mit der Diktatur kontrastiert. Für die Vereinigten Staaten ist es passender, eine Demokratie einer Republik gegenüberzustellen. Die Gründerväter der USA machten diese Unterscheidung und wählten ausdrücklich eine Republik statt einer Demokratie. Laut James Madison ist der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Regierungsformen, “daß in einer Demokratie das Volk selbst zusammentritt und die Regierung ausübt, während sich in einer Republik die Vertreter des Volkes versammeln und regieren.”[xxx] Diese Unterscheidung zwischen einer Demokratie und einer Republik ist größer und bedeutsamer als der Unterschied zwischen direkter und indirekter Demokratie. Eine Annahme der Gründer der Vereinigten Staaten war, daß nicht alle Menschen, sondern nur äußerst tugendhafte Personen fähig sind zu entscheiden, wie das Gemeinwohl gefördert werden soll:

 Das Ziel jeder politischen Verfassung ist – oder sollte es zumindest sein – erstens, als Regenten Männer zu finden, die genügend Weisheit besitzen, um das gemeinsame Wohl für die Gesellschaft zu erkennen, und genügend Tugend, um es zu verfolgen; und zweitens, die wirkungsvollsten Vorkehrungen zu treffen, um sie ihre Tugend bewahren zu lassen, solange sie ihre öffentliche Treuhänderschaft wahrnehmen.[xxxi]

 Die Theorie des gerechten Krieges gehört zu einer philosophischen Tradition, nach der die Moralität in Begriffen von Tugenden verstanden wird. Die moderne Demokratie gehört zu einer philosophischen Tradition, die mit Bedacht die Tradition der Tugenden ablehnte. Die Tatsache, daß George Bush die Präsidentwahl im Jahre 2000 gewann, obwohl Albert Gore mehr Stimmen bekam, ist ein Relikt der nichtdemokratischen Gründung der USA. Aber bis zum Zeitalter von Präsident Woodrow Wilson, der in den Ersten Weltkrieg zog, um “die Welt für die Demokratie sicher zu machen”, war die USA eine “demokratische Republik” geworden, was die Gründerväter als einen Widerspruch verstanden hätten. Und die USA während der Ära Bill Clinton, der keine Tugend besaß und die Nation nicht führte, sondern versuchte, der öffentlichen Meinung gleichzeitig zu folgen und diese zu manipulieren, war die reductio ad absurdum der amerikanischen Demokratie.

 Wenn wir auf dem Wege der Demokratie die Entscheidung treffen, ob wir in den Krieg ziehen sollen, bedeutet das, daß gewählte Politiker und ihre Berater entscheiden, und daß sie versuchen, zu gewährleisten, daß die Mehrheit der öffentlichen Meinung ihnen darin zustimmt. Eine häufig genannte Voraussetzung ist, daß die Soldaten eines demokratischen Landes ihren zivilen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam schulden. Und man glaubt oft, daß dieser unbedingte militärische Gehorsam dem Prinzip der “zivilen Kontrolle über das Militär” verpflichtet ist, dessen Einhaltung für das Überleben einer demokratischen Nation notwendig ist.

 Ein Problem der demokratischen Methode ist, daß gewählte Politiker und ihre Berater nicht immer die Kompetenz haben, um eine solche Entscheidung zu treffen. Es ist sehr bedeutsam, daß die meisten Amerikaner, die sich für den Kosovo-Krieg entschieden, keine militärische Erfahrung hatten. Offenkundig haben sie auch keine Ahnung von Militärethik. Selbst wenn ihre Absichten makellos gewesen wären, sind gute Absichten nicht hinreichend, um ethische Entscheidungen unter komplizierten Umständen zu treffen. Die Tugend der prudentia militaris, der militärischen Klugheit, ist ebenso notwendig.

 Nicht nur gewählte Politiker, sondern auch die Mehrheit der Staatsbürger eines demokratischen Landes kann falsche Meinungen über Krieg und Frieden haben. Das ist besonders dann der Fall, wenn die Bürger falsch informiert sind. Vieles, was die Staatsbürger der NATO-Länder vor dem Krieg über den Kosovo durch die Presse und die eigenen Regierungen hörten und lasen, war ungenau, einseitig, unausgewogen, verzerrt, übertrieben oder einfach falsch. Man hörte viel mehr über die Greueltaten der Serben als über die der Albaner. In demokratischen Ländern wie der BRD und den USA streben Politiker danach, die öffentliche Meinung zu manipulieren, um die Mehrheit der Wähler hinter ihrer Politik zu halten. Der Sprecher der NATO, Jamie Shea, betont die Rolle der deutschen Politiker während des Krieges in der Bildung bzw. Manipulation der öffentlichen Meinung:

 Die politischen Führer spielten nun für die öffentliche Meinung die entscheidende Rolle. Sie sind die demokratisch gewählten Vertreter. Sie wußten, welche Nachricht jeweils für die öffentliche Meinung in ihrem Land wichtig war. [...] Nicht nur Minister Scharping, auch Kanzler Schröder und Minister Fischer waren ein großartiges Beispiel für politische Führer, die nicht der öffentlichen Meinung hinterher rennen, sondern diese zu formen verstehen.[xxxii]

 Die Alternative zum demokratischen Verfahren besteht darin, die Entscheidung, ob eine Nation einen Krieg führen soll, nach den Kriterien der Theorie des gerechten Krieges zu treffen. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu verstehen, daß eine echte Tradition niemals statisch ist. Es ist vielleicht möglich, daß das Kriterium des gerechten Grundes humanitäre Eingriffe einschließen kann, ohne seiner Tradition zu widersprechen. Aber, wie David Fromkin zu Recht betont: “Einen reinen humanitären Eingriff gibt es nicht. Ein militärischer Eingriff in ein fremdes Land ist, wenn er nicht auf Bitte der Regierung des betroffenen Landes unternommen wird, politisch.”[xxxiii] Jeder humanitäre Eingriff muß den anderen Kriterien der Theorie vom gerechten Krieg entsprechen, um zu gewährleisten, daß das Heilmittel nicht schädlicher als die Krankheit ist.

 In den Vereinigten Staaten glaubt man gemeinhin, daß das Prinzip der zivilen Kontrolle über das Militär verfassungsmäßig ist. Aber dieses Prinzip ist, ebenso wie das “konstitutionelle” Prinzip von der “Trennung von Kirche und Staat”, nicht in der amerikanischen Verfassung zu finden. Nach der Verfassung ist der Präsident der Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Nation. Aber jeder Soldat hat die ethische Pflicht, unmoralische Befehle nicht zu befolgen. Es ist immer unmoralisch, unmoralisch zu handeln – selbst wenn ein Vorgesetzter das Handeln befiehlt. Das gilt nicht nur für den Fall My Lai im Vietnam, in dem der Befehlshaber Leutnant war, sondern auch für den Fall Kosovo, in dem der Befehlshaber Präsident der Vereinigten Staaten war.

 Es könnte ironisch erscheinen, daß der ehemalige Quasipazifist Joschka Fischer mit diesem Krieg einverstanden war und der hochrangige Offizier Heinz Loquai ihn für ungerechtfertigt hält. Aber es ist nicht ironisch. Einen Grund dafür nennt der hervorragendste Soldat der Geschichte der USA, Fünf-Sterne-General Douglas MacArthur, der 1951 wegen Gehorsamsverweigerung gegenüber Präsident Truman abgelöst wurde: “Mehr als alle anderen Menschen betet der Soldat für den Frieden, denn er muß die tiefste Wunden und Narben des Krieges erleiden und ertragen.”[xxxiv] Ein anderer Grund, weshalb Politiker oft bereitwilliger in den Krieg ziehen als militärische Offiziere, ist, daß letztere den Beruf der Waffen und das Berufsethos der Soldaten besser verstehen.

 Die politisch korrekte Interpretation der Entscheidung Präsident Trumans, den General MacArthur seines Kommandos in Korea zu entheben, lautet, daß hier einem anmaßenden Soldaten von seinem zivilen Oberbefehlshaber der ihm zukommende Platz angewiesen wurde. Für MacArthur hingegen ging es darum, ob es Rechtens sei zu verlangen, daß Soldaten, obwohl ein klares und angemessenes Ziel fehlte, ihr Leben opfern müßten. In Bezug auf Trumans Entscheidung, in Korea in den Krieg zu ziehen, schreibt MacArthur:

 Das Risiko, daß die sowjetischen oder chinesischen Kommunisten in den Krieg eintreten könnten, wurde klar gesehen und forsch akzeptiert. Die amerikanische Tradition war stets, daß wenn einmal die Truppen zur Schlacht entschlossen wären, der volle Machteinsatz und alle Mittel der Nation mobilgemacht und dem Kampf für den Sieg unterstellt werden müßten – und nicht für ein Patt oder einen Kompromiß.[xxxv]

  Als jedoch MacArthur die Genehmigung zur Bombardierung der Brücken über den Yalu-Fluß zwischen Nordkorea und der Mandschurei erbat, um den Chinesen einen Angriff auf seine mit einem Mandat der Vereinten Nationen ausgestattete Armee zu erschweren, wurde ihm diese untersagt, weil man den Beginn eines Kriegs mit China fürchtete. Die Folge davon war, daß wir einen Krieg mit China zu führen hatten, aber einen, bei dem die Chinesen von vornherein einen großen Vorteil hatten, weil er nämlich nur innerhalb der Grenzen Koreas geführt wurde. MacArthur wurde durch General Matthew Ridgway ersetzt und der Krieg endete, nachdem Millionen ihr Leben gelassen hatten, genau da, wo er begonnen hatte.

 Der Vorfall zwischen MacArthur und Truman war der Sieg für einen mittelmäßigen demokratischen Politiker und für die zivile Kontrolle des Militärs, gleichzeitig aber eine Niederlage für die Überzeugung, daß die Führung einer Nation und ihrer Streitkräfte tugendhafte Männer verlangt. Truman folgte der demokratische General Dwight Eisenhower nach, dessen Standpunkt lautete: „Es gibt keine ‚großen Männer’, wie wir diesen Ausdruck verstanden, als wir noch Jünglinge waren. Der Mann, dessen Gehirn alles, was geschieht, erfassen kann, so unfehlbar in seiner Logik, und so rasch in der Formulierung vollkommener Entscheidungen, ist nur ein Produkt der Einbildung.“[xxxvi]

 1961 riet General MacArthur John Kennedy davon ab, amerikanische Soldaten auf das asiatische Festland zu schicken. 1964, nachdem Kennedy ermordet worden war und MacArthur in einem Armeekrankenhaus in Washington im Sterben lag, bat er Präsident Johnson darum, sich aus Vietnam herauszuhalten. Nichtsdestotrotz schickten Johnson und seine zivilen Berater Hunderttausende von Soldaten in einen Krieg, der offenkundig ungerecht war und in einem vollständigen Desaster endete. Johnsons arroganter Verteidigungsminister Robert McNamara hatte vor seiner Amtsübernahme an der Harvard Business School angewandte Systemanalyse für Probleme des Managements unterrichtet und war dann zum Vorstand des Fordkonzerns aufgestiegen. Militärische Erfahrung schätzte er gering und glaubte, den Krieg in Vietnam durch die Anwendung statistischer und Systemanalyse gewinnen zu können. Das erklärt, warum die Zählung von Toten in diesem Krieg so wichtig genommen wurde. Darüber hinaus hat die Regierung Johnson die amerikanische Öffentlichkeit über die wirkliche Lage in Vietnam belogen.

 Aber die Unfähigkeit und Unaufrichtigkeit von Johnson und seinen Beratern war nur zum Teil verantwortlich für die Katastrophe von Vietnam. Altgediente Offiziere haben dazu ebenfalls beigetragen, indem sie lediglich gehorchten. Eine Erklärung für ihren Gehorsam ist, daß im Hintergund immer die Entlassung MacArthurs durch Truman spürbar war:

 Verschiedene Faktoren hielten den Vereinigten Generalstab davon zurück, etwas gegen die Ränke des Präsidenten zu unternehmen. Das Berufsethos des Offiziers verbietet es ihm oder ihr, sich politisch zu betätigen. Aktionen, die die Glaubwürdigkeit der Regierung untergraben oder die Maßnahmen gegen Vietnam zum Entgleisen gebracht hätten, durfte man nicht leicht nehmen. Die Stabschefs fühlten sich loyal gegenüber ihrem Oberbefehlshaber. Und die Kontroverse zwischen Truman und MacArthur hatten sie stets als Warnung vor Augen, wozu das Überschreiten der Schranken, die ihnen die zivile Kontrolle setzte, führen würde.[xxxvii]

 Im Januar 2000 hielt General a. D. Charles Krulak, der während des Kosovo-Krieges Kommandant der US-Marine-Corps und folglich Mitglied der Vereinigten Stabschefs war, eine Ansprache anläßlich einer Tagung zur Militärethik in Washington. Nach seiner Rede fragte ein Teilnehmer ihn, wie sich die amerikanischen Generäle und Admirale entschieden hätten, den Befehl Clintons zu befolgen und Jugoslawien zu bombardieren. General Krulak antworte, er bedauere es, daß die amerikanische Öffentlichkeit vor dem Krieg keine Gelegenheit gehabt hätte, darüber zu diskutieren. Mit anderen Worten, er beantwortete die Frage nicht und schob die Verantwortung demokratisch auf die Allgemeinheit.

 Wir benötigen nicht nur eine Tradition des zivilen Ungehorsams, sondern auch eine Tradition des militärischen Ungehorsams. Natürlich sollen Soldaten aller Ränge die ethisch akzeptablen Befehle ihrer Vorgesetzten befolgen. Hochrangige Offiziere müssen aber bereit sein, unmoralische Befehle nicht zu befolgen, selbst auf Kosten ihrer Karriere. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestraften die Alliierten deutsche Generäle dafür, daß sie den Befehl Hitlers befolgten, einen Angriffskrieg zu führen. Aber die Geschichte der USA zeigt, daß nicht nur Diktatoren den Befehl geben, ungerechte Kriege zu führen. Viele amerikanische Offiziere sagten privat, daß der Kosovo-Krieg falsch war, aber keiner sagte es öffentlich, weil sie das Prinzip der zivilen Kontrolle über das Militär nicht verletzen oder sie ihre Karriere nicht gefährden wollten.

 Wenn die Gründe verallgemeinert würden, die die Führer der NATO-Mitgliedstaaten anführten, um die Bombardierung von Jugoslawien zu rechtfertigen, würde es viel mehr Kriege in der Welt geben. Wenn ein oder mehrere Länder glauben, daß Menschenrechte in einem anderen Land verletzt werden, dürfte man in diesem Land militärisch eingreifen. Wenn die europäischen Nationen entscheiden, daß die Todesstrafe eine Verletzung der Menschenrechte ist, wären sie berechtigt, die USA anzugreifen. Wenn die nordkoreanischen Führer meinen, daß das südkoreanische Wirtschaftssystem die Menschenrechte verletzt, wäre es ihnen erlaubt, in den Krieg zu ziehen.

 Die Alternative ist, Kriege nur dann zu beginnen, wenn alle Kriterien der Theorie des gerechten Krieges befolgt werden. Die Erweiterung des Kriteriums des gerechten Grunds um den Zweck, humanitäre Eingriffe einzuschließen, hat viel mit technologischen Entwicklungen, besonders mit der Erfindung des Flugzeugs zu tun. Es ist heute viel leichter als zu Zeiten Ciceros, Augustinus’ und Hugo Grotius’, Waffen und Soldaten in fremden Ländern einzusetzen. Aber moralische Gebote ändern sich nicht. Es kann gerechte Kriege – einschließlich vielleicht gerechter Eingriffe – geben. Aber der NATO-Einsatz in Jugoslawien war ungerecht. Und wenn alle Länder und Armeen der Welt die Kriterien des gerechten Krieges erfüllten, gäbe es viel weniger Kriege als heutzutage.

 

 Anmerkungen


[i] Jürgen Habermas: Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral, Die Zeit, Nr. 18/1999, www.ZEIT.de/tag/aktuell/199918.krieg_.html.

[ii] Noam Chomsky: The Current Bombings: Behind the Rhetoric, www.tmcrew.org/news/nato/chomsky.htm.

[iii] William Clinton: A Just and Necessary War, The New York Times, 23 May 1999.

[iv] Vgl, z.B., J. Milburn Thompson: Humanitäre Intervention, gerecte Friedensarbeit und die Vereinten Nationen, Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie, 37 (April 2001), S. 207-217.

[v] Julie A. Mertus: Kosovo: How Myths and Truths Started a War (Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1999), S. 222.

[vi] Elaine Sciolino and Ethan Bronner: How a President, Distracted by Scandal, Entered Balkan War, The New York Times, 18. April 1999.

[vii] Shaban Kelmendi, in: Jo Angerer und Mathias Werth: Es begann mit einer Lüge, Fernsehen Film, 8. Februar 2001.

[viii] Barton Gellman: Slaughter in Racak Changed Kosovo Policy, The Washington Post, 18. April 1999.

[ix] William S. Cohen and Henry H. Shelton: Joint Statement on the Kosovo After Action Review, Senate Armed Services Committee, 14. Oktober 1999.

[x] Franz-Josef Hutsch: Hufeisenplan – das Kriegsrätsel, Hamburger Abendblatt, 21. März 2000; Karl Grobe: “Hufeisen-Plan gab es nicht”. General bezweifelt Existenz des serbischen Kriegskonzepts, Frankfurter Rundschau, 22. März 2000.

[xi] Heinz Loquai, in: Enthüllungen eines Insiders - Scharpings Propaganda im Kosovo-Krieg, PANORAMA-Sendung 587, 18. Mai 2000.

[xii] Heinz Loquai, in: Jo Angerer und Mathias Werth: Es begann mit einer Lüge.

[xiii] Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2000), S. 137.

[xiv] Heinz Loquai: Es gab keine “Humanitäre Katastrophe” die einen Krieg rechtfertigte. Ein Interview mit Heinz Loquai, 5.9.2000, “guernica” Zeitung der Friedenswerkstatt Linz/Donau; http://www.friedenskooperative.de/ff/ff01/2-50.htm.

[xv] Toni Marshall: Kurds Call Turkey Hypocritical, Say It’s Also “Ethnically Cleansing”, The Washington Times, 9. April 1999; Alan Freeman: Comparison – Kosovo Albanians and Turkish Kurds, The Globe and Mail, 11. June 1999; Fergus Nicoll: Kurds and Kosovo: Double standards? British Broadcasting Corporation, 30. Juni 1999.

[xvi] War Powers Act, Public Law 93-148, 93rd Congress, H. J. Res. 542, 7 November 1973.

[xvii] Colin Powell, with Joseph E. Persico: My American Journey (New York: Random House, 1995), S. 576.

[xviii] Madeleine Albright: 60 Minutes, Fernsehen Sendung, Central Broadcasting System, 12 May 1996.

[xix] Madeleine Albright, zitiert von Mark Danner in: Marooned in the Cold War: America, the Alliance, and the Quest for a Vanished World, World Policy Journal, XIV (1997).

[xx] James P. Rubin: Countdown to a Very Personal War, Financial Times, 29. September 2000.

[xxi] William Clinton: Remarks to AFSCME Biennial Convention, Washington, D.C., 23 March 1999.

[xxii] Gerhard Schröder: Regierungserklärung zum Krieg im Kosovo, Bonn, 26. März 1999.

[xxiii] George Kenney: Rolling Thunder. The Rerun, The Nation, 14. Juni 1999.

[xxiv] James P. Rubin: Countdown to a Very Personal War.

[xxv] William Clinton: Remarks on the NATO Attack, 24 March 1999.

[xxvi] Michael Ignatieff: Virtual War: Kosovo and Beyond (New York: Henry Holt, 2000), p. 106.

[xxvii] William Clinton: Address to the Nation, 11 June 1999.

[xxviii] Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt, S. 156.

[xxix] Michael Mandelbaum: A Perfect Failure. NATO’s War Against Yugoslavia, Foreign Affairs, Bd. 78, Nr. 5 (September/October 1999).

[xxx] James Madison: Federalist Nr. 14, 30. November 1787, in: Die Federalist Papers, übers. v. Barbara Zehnpfennig (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993), S. 114.

[xxxi] James Madison: Federalist Nr. 57, 19. Februar 1788, S. 347.

[xxxii] Jamie Shea, in: Jo Angerer und Mathias Werth: Es begann mit einer Lüge.

[xxxiii] David Fromkin: Kosovo Crossing. American Ideals Meet Reality on the Balkan Battlefields (New York: Free Press, 1999), p. 79.

[xxxiv] Douglas MacArthur: Sylvanus-Thayer-Medaille Annahmerede, United States Military Academy, West Point, New York, 12. Mai 1962.

[xxxv] Douglas MacArthur: Reminiscences (New York: McGraw-Hill, 1964), S. 334.

[xxxvi] Merle Miller: Ike the Soldier. As They Knew Him (New York, Putnam, 1987), S. 253.

[xxxvii] H. R. McMaster: Dereliction of Duty. Lyndon Johnson, Robert McNamara, the Joint Chiefs of Staff, and the Lies that Led to Vietnam (New York: HarperCollins, 1997), S. 330.