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Nationale Sicherheit

 

Daniel Yergin: Das Evangelium der nationalen Sicherheit

Vorbereitungen für den am Horizont aufgehenden Krieg

 

  Ende Oktober 1941 faßte Kriegsminister Henry Stimson seine Überlegungen über den europäischen Krieg und die veränderten internationalen Beziehungen in einem Brief an Franklin Roosevelt zusammen. »Unsere gesamten strategischen Möglichkeiten der vergangenen zwanzig Jahre wurden durch die Weltereignisse während der letzten sechs Monate revolutioniert.«

 Doch kurz danach, als die Japaner am 7. Dezember 1941 ihren Überraschungsangriff auf Pearl Harbor durchführten, traten diese Möglichkeiten weit hinter den offensichtlich gewordenen Schwächen zurück. Als Henry Stimson zehn Tage später seine Gedanken wieder zu sammeln suchte, befanden sich die amerikanischen Führer immer noch in einem Schockzustand. Stimson fragte sich, »ob unsere grundlegende Theorie der Verteidigung und des Vertrauens auf diese Festung nicht zu statisch« sei »und ob die Japaner uns nicht durch dieses schreckliche Unglück eine Situation enthüllt hätten, der abgeholfen werden müsse».

 Im Verlauf des Kriegsgeschehens und der Friedensvorbereitungen entwickelte sich, um Amerikas Beziehungen zur übrigen Welt zu kennzeichnen, ein grundlegende Theorie – eine Doktrin der nationalen Sicherheit. Sie erwuchs aus technischen und politischen Veränderungen und der Art, wie die Menschen diese auffaßten und verstanden. Ein politischer und bürokratischer Kampf um das stehende Heer nach dem Kriege verlieh dieser Doktrin zusätzliche Überzeugungskraft. Ihre volle Bedeutung gewann sie jedoch erst, als sie sich im Denken amerikanischer Politiker mit den Riga-Grundsätzen verzahnte. Gegen Ende des Krieges machten amerikanische Politiker bereits bewußt von dieser Theorie Gebrauch, um ihre Auffassung von den neuen Beziehungen darzulegen. Im Herbst 1945 versammelten sich die Führer verschiedener ziviler und militärischer Dienststellen auf dem Kapitolshügel, um sich dort vor einem Senatsausschuß wegen der Frage der Zusammenarbeit der Truppengattungen festzulegen. Während bei einer früheren Runde solcher Hearings im Frühjahr 1944 von »nationaler Sicherheit« kaum die Rede gewesen war, beriefen sich die Politiker anderthalb Jahre später bei diesen Hearings ständig auf diese Idee als ihrem Ausgangspunkt.

  »Unsere nationale Sicherheit kann nur durch eine sehr breite und einsichtige Frontbildung gewährleistet werden«, brachte der energischste Vertreter dieses Konzeptes, Marineminister James Forrestal, vor. »Das Wort ›Sicherheit‹ ziehe ich hier logisch und beständig dem Ausdruck ›Verteidigung‹ vor.«

 »Mir sagt Ihre Formulierung ›nationale Sicherheit‹ zu«, erklärte ihm Senator Edwin Johnson.

  Die Worte an sich waren nicht neu. Sie waren spätestens im 18. Jahrhundert in Gebrauch gekommen. In The Federalist sah Madison »Sicherheit gegen ausländische Bedrohung« als wichtigsten Anlaß, Machtbefugnisse von den Bundesstaaten auf die Zentralregierung zu übertragen. Doch allgemein gebräuchlich wurde die Formulierung »Nationale Sicherheit« in der politischen Sprache Amerikas erst Mitte der vierziger Jahre.

  Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg war die Formulierung durch einige Gelehrte in Umlauf gebracht worden. Von besonderer Bedeutung war ein Princeton-Seminar, das Professor Edward Mead Earle für Fortgeschrittene veranstaltete. An ihm nahm eine Anzahl damaliger und späterer prominenter Spezialisten in internationalen Beziehungen teil. Ihr Ziel war, die Beziehungen zwischen militärischen und außenpolitischen Fragenkomplexen zu ergründen; »nationale Sicherheit« wurde zum vereinheitlichenden Konzept, das die Verbindung zwischen den beiden herstellen sollte. »Der Ausdruck spielte eine gewisse Rolle«, erinnerte sich Felix Gilbert, der an dem Seminar teilnahm. »Man war sehr bestrebt, darauf hinzuweisen, daß ein eventueller Kriegseintritt der Vereinigten Staaten nicht aus Idealgründen in Wilsons Sinne, sondern wegen der Realpolitik, das heißt aus Gründen nationaler Sicherheit, stattfinden würde.« Die prominenteste Darlegung dieses Konzeptes lieferte während des Krieges Walter Lippmann mit seinem Bestseller U. S. Foreign Policy: Shield Of The Republic, der 1943 veröffentlicht wurde. Er legte dar, daß »das Friedensideal« und die auf Amerikas geographischer Lage beruhende »unverdiente Sicherheit« unser Augenmerk »von dem Gedanken der nationalen Sicherheit abgelenkt« hätten.

 Zu bestimmten Zeiten werden ungewohnte Sätze plötzlich zu Gemeinplätzen politischer Äußerungen, und die von ihnen vertretenen Konzepte dringen so stark in das Nationalbewußtsein ein, daß sie ihm stets angehört zu haben scheinen. Das trifft 1945 auf die formulierung »Nationale Sicherheit« in den Monaten genau vor und nach dem Ende des Pazifik-Krieges zu. »Das abstrakte Substantiv ›Sicherheit‹ hat für uns eine sehr konkrete Bedeutung gewonnen«, bemerkte Joseph E. Johnson, der Leiter der Abteilung für Internationale Sicherheitsfragen im State Department, im Sommer 1945 wenige Tage vor dem Atombombenabwurf in Hiroshima. »Es ist unmöglich, eine Zeitung zu lesen, ein Magazin durchzublättern oder zu einer Dinnerparty zu gehen, ohne durch eine Geschichte, einen Artikel oder eine beiläufige Bemerkung dringlich an das weitverbreitete Interesse an der künftigen Sicherheit der Vereinigten Staaten erinnert zu werden.« Die neue Sorge, meinte er, erkläre sich durch den revolutionären Wandel der nationalen Einstellung zur Sicherheit, der in direkter Verbindung zu »einer veritablen Revolution der internationalen Beziehungen« stand. Er hatte recht – der Ausdruck war überall zu hören. »Wir leben jetzt in einem anderen Bund«, berichtete Life seinen Lesern im September 1945. »Wie sehr das Thema der Sicherheit an Bedeutung zugenommen hat, mehr all das von Armee und Flotte zusammen... die vor uns liegenden militärischen Pro-bleme sind alle mit der Außenpolitik und miteinander verquickt.«

  Der Satz drückt die neue konventionelle Auffassung der militärischen Ordnung nach dem Kriege aus. In einer Rede im Army Industrial College im Herbst 1945 zählte ein Planer des War Department einige grundlegende Anforderungen der nationalen Sicherheit auf – einen weitausgedehnten Nachrichtendienst, einen »nationalen Realismus, der uns erlaubt, allgemeine Kriegsvorbereitungen zu treffen, wenn wir bei einer anderen Nation aggressive Absichten feststellen«, und die Möglichkeit, unverzüglich zur Kriegsmobilisierung imstande zu sein. »Ich wünschte nur, wir hätten mehr Apostel, um das Evangelium der nationalen Sicherheit zu predigen«, bedeutete ihm einer der höheren Beamten am Ende seiner Rede.

 Wir dürfen jedoch nicht annehmen, daß «nationale Sicherheit» eine reine Modephrase geworden war, mit der ein Redner eine Zuhörerschaft oder ein Hearing im Kongreß beeindrucken konnte. Ihre plötzliche Popularität ging im Gegenteil auf die Tatsache zurück, daß sie eine Welteinstellung, eine Mentalität beinhaltete. Die Doktrin definierte nicht nur eine neue Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und der übrigen Welt, sonden empfahl auch Verhaltensweisen, die diesen neuen Bedingungen angepaßt waren. Man darf annehmen, daß die Amerikaner außenpolitisch stets nach einem einheitlichen Konzept, einem Leitgedanken, strebten, der Amerikas Verhältnis zur übrigen Welt darlegt, widersprüchliche Informationen integriert, Verhaltensabläufe vorschlägt und rationalisiert, bei Politikern und dem Volk als oberste Instanz gilt und Streitigkeiten und Debatten quasi wie mit einem Zauberspruch beendet. In diesem Sinne war »nationale Sicherheit« mehr als drei Jahrzehnte lang tatsächlich ein Leitgedanke der amerikanischen Geschichte. Wir dürfen nicht vergessen, daß »nationale Sicherheit« kein Faktum, sondern eine Denkweise ist.

 Was charakterisiert jedoch das Konzept der nationalen Sicherheit? Sie postuliert die Zwischenbeziehungen so vieler unterschiedlicher politischer, wirtschaftlicher und militärischer Faktoren, daß Entwicklungen über die halbe Erde lebenswichtige Interessen automatisch und unmittelbar zu beinflussen scheinen. Faktisch wird jede Entwicklung auf der Welt als eventuell kritisch angesehen. Eine gegensätzliche Entwicklung an jedem möglichen Ort bedeutet Gefahr für die Vereinigten Staaten. Außenpolitische Probleme werden zu unmittelbaren Bedrohungen. Erstrebenswerte außenpolitische Ziele werden zu Kernpunkten des nationalen Überlebens hochgespielt, das Ausmaß der Bedrohungen nimmt kein Ende. Charakteristisch für die Doktrin ist die Expansion, eine Tendenz, die subjektiven Grenzen der Sicherheit immer mehr auszuweiten, immer weitere Gebiete und immer mehr Probleme in sie einzubeziehen. Sie verlangt von dem Land eine Einstellung militärischer Bereitschaft, die Nation muß ständig in Alarmfähigkeit gehalten werden. Jetzt gewannen Technologie wie die Streitkräfte selbst eine neue Bedeutung. Daraus ergaben sich institutionelle Wechsel. All das führt zu einem Paradox: das Anwachsen der amerikanischen Macht führte nicht zu einem größeren Sicherheitsgefühl, sondern eher zu einer Wahrnehmung neuer Bedrohungen, denen dringend zu begegnen war. Arnold Wolfers schrieb richtig: »Vermutlich würden sich Bemühungen um größere Sicherheit wenigstens teilweise auch als eine Funktion der Macht und Gelegenheit erweisen, durch die Nationen die Möglichkeit haben, ihre Gefährdung durch eigene Bemühungen zu verringern.«

 Die Doktrin der nationalen Sicherheit entstand aus dem Bewußtsein von vier Veränderungen. Erstens war das bröckelnde und auf Europa konzentrierte internationale Gefüge zu einem von zwei früheren Außenseitern, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, beherrschten Weltgefüge geworden. Die konventionelle Ansicht vor dem Kriege war, daß ein vielfältiges Verteidigungssystem die amerikanische Sicherheit gewährleistete und das Land von den Problemen der Welt isolierte. Man unterstellte, das Land sei geographisch von den anderen Großmächten entfernt, die überlegene amerikanische Flotte würde es vor Angriffen schützen, die Vereinigten Staaten könnten sich auf große natürliche und industrielle Reichtümer verlassen, die bedeutender waren als die eines potentiellen Feindes. Man glaubte auch, das europäische Kräftegleichgewicht würde so langsam verfallen, daß Zeit genug bliebe, kommenden Gefahren zu begegnen. Außenpolitischer Gefahren wegen war man Mitte der dreißiger Jahre so wenig besorgt, daß Hamilton Fish Armstrong, der einflußreiche Herausgeber von Foreign Affairs, sich genötigt sah, darauf hinzuweisen, daß »manche Amerikaner zögerten, die Sicherheit der Vereinigten Staaten bis zu 100 Prozent zu bewerten, insbesondere im Falle eines Konfliktes auf den Philippinen oder den Karibischen Inseln«.

 Diese Faktoren hatten dem Isolationismus eine diskutable Grundlage gegeben, aber durch den Zweiten Weltkrieg, im Gegensatz zum Ersten ein globaler Krieg, hatten sie ihre Bedeutung verloren. Nun waren die Vereinigten Staaten als eine vorherrschende Macht aufgestiegen, die auf der ganzen Welt eine neue Rolle zu spielen hatte. Amerikanische Führer – von einem übertriebenen Missionseifer erfüllt, von ihrer weltweiten Verantwortlichkeit überzeugt und voller Selbstvertrauen, weil sie in einer verwundeten Welt unverletzt geblieben waren – verlangten nun begierig nach ihrem himmlischen Mandat. Wirklich schien es bereits in ihrer Reichweite. 1939 fuhren die höheren amerikanischen Beamten noch mit dem Schiff nach Europa. 1945 konnte ein John J. McCloy oder James Forrestal mit dem Flugzeug in wenigen Wochen wie ein Wirbelsturm um die ganze Welt brausen. Bei jeder Landung konnte er von amerikanischen Generälen oder Admiralen begrüßt werden, die allesamt stationierte Streitkräfte der USA befehligten. Amerikanische Prokonsuln verwalteten Deutschland und Japan, und die amerikanische Industriemaschine erzeugte die Hälfte der Weltproduktion. Und so konnte John J. McCloy seinen Kollegen im Kriegsrat nach seiner Rückkehr von einer Inspektionsreise rund um die Welt im Herbst 1945 mit einigem Selbstvertrauen berichten: »Die Welt schaut auf die USA als ein stabiles Land, das die Sicherheit der Welt gewährleisten wird.«

 Eine zweite Quelle der neuen Doktrin war eine Reaktion auf Erfahrungen – die Männer hatten eine Lektion gelernt, sie waren sich der Bedingungen, die zum allgemeinen Krieg geführt hatten, wie auch der Praktiken weltweiter Kriegsführung bewußt. Die Abfolge von Ereignissen, die für Asien 1931 in der Mandschurei und für Europa 1936 im Rheinland begann, wurde als Teil eines Musterablaufs, Teil der Dynamik diktatorischer, totalitärer Staaten angesehen. In der Retrospektive sah es so aus, als seien die Nichtangreifer bei jeder Krise passiv zurückgewichen, was den Appetit der Aggressoren nur noch stimuliert hatte. Nirgends in der Retrospektive hatten friedlich gesinnte Staaten sich weniger bewährt als im September 1938 in München. Genau an dem Tage, als Chamberlain nach München flog, hatte ein unbeachteter amerikanischer Diplomat Washington gewarnt, je stärker Deutschland würde und je mehr Diplomaten Hitler nachgäben, um so mehr Gebietsansprüche würde dieser stellen. Wer in der Mitte der vierziger Jahre konnte die jüngste Vergangenheit vergessen und würde so leicht ihre Wiederholung zulassen? Doch war »München« im Denken der Elite nicht nur eine Analogie, sondern ein eisernes Gesetz und moralisches Prinzip: nie wieder! Umstände, die das Prinzip hätten modifizieren können – die Art des anliegenden Falles, historische Umstände, die Aspekte internationaler Politik wurden übersehen. Der Friedensmacher der Welt, der sich leicht hatte herumstoßen lassen, war jetzt mit außenpolitischen Verteufelungen schnell bei der Hand, der schnellste Weg, einen Andersdenkenden zum Schweigen zu bringen. Und natürlich bedeutete Einlenken Schwäche, es zeugte von Blindheit und Dummheit oder schlimmer – Verrat. Um in den Nachkriegsjahren Ereignisse zu interpretieren und politische Richtlinien festzulegen, rief man sich immer wieder die Lektion von München ins Gedächtnis.

 So kam es dazu, daß Hitlers »Salamitaktik« mit den Jahren zur »Dominotheorie« wurde. Die Münchner Lektion ging von der Annahme aus, daß internationale Ereignisse sich als einfache Kettenreaktionen abspielten, alle Punkte auf der Karte gleich nahe lägen und jedes Ereignis von gleicher Bedeutung sei. Solch eine Annahme lag hinter Averell Harrimans Telegramm von 1944 bezüglich der Polenfrage: »Mich beängstigt jedoch, daß, wenn immer ein Land seinen Einfluß dadurch auszuweiten beginnt, daß es sich unter dem Deckmantel der Sicherheit mit Waffengewalt außerhalb seiner Grenzen durchsetzt, man kaum noch eine Trennungslinie ziehen kann. Erkennt man der Sowjetunion das Recht zu, aus Sicherheitsgründen bei ihren nächsten Nachbarn einzudringen, muß zu einem gewissen Zeitpunkt das Eindringen in die dahinter nächstgelegenen Nachbarstaaten ebenfalls logisch scheinen.« Mit anderen Worten, jeder Schritt den Rußland im Namen der sowjetischen »Sicherheit« über die eigenen Grenzen hinaus tat, würde durch eine solche Auslegung mit der Auffassung der amerikanischen »nationalen Sicherheit« in Widerspruch geraten. Zwei Jahre später wies Kennan genau auf diesen Punkt hin. »Wir müssen den Russen begreiflich machen«, sagte er 1946, »daß sie ihre Sicherheitsforderungen dem Konzept der unseren anpassen müssen.« Die unvermeidlichen Einflußsphären konnte man nicht zulassen, weil man meinte, daß sie für den Frieden der Welt eine Bedrohung darstellten.

 Drittens war man von der Notwendigkeit überzeugt, die amerikanische Position durch stationären Einsatz bewaffneter Streitkräfte glaubwürdig machen zu müssen. 1938 hatte Roosevelt bedauernd eingesehen, daß den Vereinigten Staaten die Macht fehlte, potentielle Gegner »einzuschüchtern«. Ihre kleine Luftwaffe und die 185.000 Mann starke Armee genügten nicht, Diktatoren abzuschrecken. 1946 wies Ferdinand Eberstadt, ein wichtiger Verfechter des »nationalen Sicherheitsstaates«, jedoch darauf hin: »Die meisten Politiker glaubten, daß Außenpolitik eng mit Militär und inländischer Wirtschaft verknüpft sein müsse.« Eberstadt fügte glücklich hinzu: »In unseren Abteilungen haben wir jetzt interessierte Männer, die diese Lektion begriffen haben und sie anwenden.« James Forrestal drückte die Sache etwas offener aus. »Entweder machen wir die UNO funktionsfähig«, bemerkte er im Mär 1946 über eine Organisation, in die er kein Vertrauen setzte, »oder wir stehen einer Welt gegenüber, in der wir eine Militärmacht unterhalten müssen, deren Überlegenheit künftigen Angreifern deutlich macht, daß sie eine Zerstörung wie die Deutschlands riskieren.«

 Auch die Erfahrung, einen Weltkrieg zu managen, war lehrreich gewesen. Mobilisierung war keine leichte Aufgabe, noch dazu mußte sie in größtem Ausmaß durchgeführt werden. Zwischen 1940 und 1945 war allein das Personal der Marine von 160.997 auf 3.383.196 Mann angewachsen; während derselben Jahre produzierten die Vereinigten Staaten soviel Stahl wie die übrige Welt – Alliierte, Gegner, Neutrale – zusammen. Politiker stellten fest, daß künftig zur Mobilmachung keine Zeit mehr bleiben würde und daß man folglich ständig vorbereitet sein müsse.

 Hatten andere Kriegschefs diese Lektion nicht so gut gelernt? Bei einem für Churchill gegebenen Essen während ihres Treffens im Oktober 1944 brachte Stalin diesen Punkt zur Sprache. »Wenn Menschen trinken, lockert sich ihre Zunge«, sagte Stalin. »Ich habe so eine Idee, warum die Alliierten auf den Krieg nicht vorbereitet waren, einen Gedanken, der paradox erscheinen mag... Wir alle waren nicht vorbereitet, aber nicht aus Dummheit ... Die Erfahrung des Ersten und Zweiten Weltkrieges beweist, daß die friedliebenden Nationen – Großbritannien, die Vereinigten Saaten und die Sowjetunion - gerade aufgrund ihrer Friedenspolitik stets dazu verurteilt sind, auf Krieg vorbereitet zu sein... Das ist für den Angreifer ein Vorteil und ein Nachteil für die friedliebenden Nationen. Das ist Gesetz .. Wen kann man tadeln? Die Langsamkeit mußte sein – sie war Gesetz.«

 Ein Gesetz? Gab Stalin hier, soweit ihm das möglich war, seine eigenen schrecklichen Fehler Ende der dreißiger Jahre und nach dem 22. Juni 1941 zu? »Welche Schlußfolgerungen ergeben sich daraus?« fragte Stalin. In Zukunft, meinte er, würden die Organisierung der Sicherheit und die Kriegsverhütung eine größere Rolle spielen. Damit spielte er auf ein kleines stehendes Heer an, das von den Großmächten unterhalten werden sollte.

 Aber diese Auffassung setzte sich nicht durch. In einer Welt, in der Souveränität das eifersüchtig bewachte Vorrecht der Nationen blieb, mußte die »Organisierung der Sicherheit« zuerst auf nationaler und nicht auf kollektiver Ebene in Angriff genommen werden.

  Viertens wurde die Erwartenshaltung noch durch die technische Entwicklung dramatisiert. Mechanisierung, Geschwindigkeit, Artillerie, Luftmacht – Neuerungen auf diesen Gebieten setzten überlieferte Verteidigungspraktiken außer Kraft. Wir müssen uns vorstellen, daß ein Krieg, der mit dem Angriff polnischer Kavallerie auf deutsche Tanks begann, mit der Beschießung Londons durch die V-2 und die Atombombenexplosion über Hiroshima endete. Während man weiterhin über das Verhältnis der Luftwaffe zu anderen Truppengattungen debattierte, konnte niemand leugnen, daß die Art der Kriegführung selbst sich geändert hatte. Das gleiche galt für die bedeutendste aller Neuerungen – die Atombombe. Die Technologie hatte die Welt zusammenschrumpfen lassen und die Art der Kriegführung geändert – und das auf eine Weise, die nicht immer leicht zu verstehen war. Wie der britische General Hastings Ismay 1947 bemerkte, »spielt der Krieg sich jetzt schneller ab, als wir wahrnehmen können«. Für die amerikanischen Politiker war nach dem Kriege klar, daß Forschung, Entwicklung und die gesamte Industriemaschine des Landes mehr denn je zuvor und ständig in das Nationalarsenal einbezogen werden mußten.

 Zwei zusätzliche Faktoren präzisierten die Doktrin der nationalen Sicherheit und machten sie dringlich. Der eine war die Zusammenlegungsdebatte, in der die Kriegsmarine gegen die Luftwaffe auftrat, von denen jede sich eine neue Rolle anzueignen versuchte, die nach dem Krieg eine große Friedensstärke rechtfertigte. Jeder versuchte den anderen mit einem weitreichenden Konzept seiner Nachkriegsmission zu überbieten. Doch die kleinliche bürokratische Auseinandersetzung genügte nicht. Für ihre Debatte brauchten die Parteien einen sichtbaren Gegner. So wie der Argwohn Deutschlands sich vor dem Ersten Weltkrieg auf Rußland gerichtet und die französischen Besorgnisse in den Zwischenkriegsjahren Deutschland gegolten hatten, konnte diese Doktrin nationaler Sicherheit nur dann Bedeutung, Substanz und Zielstrebigkeit gewinnen, wenn sie sich gegen ein anderes Land – eine Gefahr von außen, einen fremden Gegner – richtete. Somit lieferte die Sowjetunion in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg der Doktrin ihren eigentlichen Gehalt.

  Doch dürfen wir nicht vergessen, daß die Doktrin nationaler Sicherheit sich nicht abseits der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen entwickelte. Sie lieferte auch Kriterien zur Einschätzung internationaler Politik und sowjetischer Verhaltensweisen. Wie wir sehen werden, begann der nationale Sicherheitsstaat eigenständige Ideologie und Institutionen zu entwickeln, als er die Riga-Grundsätze in seine Doktrin aufnahm.

  Die Zusammenlegungsdebatte war ein klassischer Fall bürokratischen Aderlasses während eines erbitterten fünfjährigen bürokratischen Ringens über die Frage, wie das stehende Heer Amerikas nach dem Kriege am wirksamsten zu organisieren sei. Zu diesem Zeitpunkt würde man über weniger Geld verfügen und befürchtete so eine Auszehrung der im Kriege hoch dotierten Truppengattungen. Daraus ergaben sich mehrere Fragen: Wie konnten sie bei so stark reduzierten Geldbewilligungen überleben? Wie konnte eine Waffengattung sich verkleinern, ohne daß sie ihre Bedeutung im Verhältnis zu den anderen verlor? Wie konnte man ihre Mission zu einer Zeit rechtfertigen, die mit der Niederlage der Achsenmächte begann?

 Das Heer sah Zusammenlegung als einzigen Weg, in den Nachkriegsjahren seine Kernstruktur zu bewahren und mit einem reduzierten Budget auszukommen, was nach Marshall, der sich an die Erfahrungen der Zwischenkriegsjahre erinnerte, sicher zu einem weiteren »langen Todeskampf« führen mußte. Das Heer erhoffte von einer zivilen Aufsicht finanzielle und strategische Unabhängigkeit sowie eine Beschränkung der Marineluftmacht und des konkurrierenden Marinekorps. Zusammenlegung bot also einen Weg, mit dem gefährlichen, aufrührerischen, frechen Kind, der halbautonomen Luftwaffe, fertigzuwerden.

  Die Luftwaffe nahm die Zusammenlegung hin, weil sie durch dieses Arrangement eine vollkommen gleichberechtigte Unabhängigkeit erlangen und dann ihr dringendes Kapitalbedürfnis gelten machen konnte, um (so hoffte man) den größten Teil des Budgets zu erlangen. Luftwaffenoffiziere, die überzeugt waren, daß der Krieg die überragende Bedeutung ihrer Waffengattung bewiesen hatte, waren sicher, daß Unabhängigkeit ihr die Vorherrschaft sichern würde. Alle drei Waffengattungen, schrieb ein Ratgeber im September 1945 an General Spaatz, würden »unter das neue Medium, die Luft, kommen. Erst wird der Schwanz den Hund wedeln, und dann wird er zum ganzen Hund werden... In diesem Luftwaffen-Atombombenstreit liegt für eine Institution oder Gruppe der Marschallstab bereit.«

 Als die Parteigänger der Luftwaffe die führende Rolle von Luftwaffe und Atombombe herausstellten, beurteilten sie ihre Rivalin bei Kapitalinvestierungen, die Marine, als veraltet. Das erklärt den Nachdruck, mit dem die Marine sich der totalen Zusammenlegung widersetzte. Die Marineführer waren überzeugt, daß sie nicht nur Fusion, sondern auch Verlust ihrer geschätzten eigenen Luftmacht bedeutete, faktisch also das Untertauchen und Versenken der Marine. Die Luftstreitkräfte würden sowohl die Billigung des Kongresses als auch die Sympathie der Öffentlichkeit gewinnen. Sie befürchtete, ihre Seefahrtsmission könne anachronistisch erscheinen, und sie würde auf einen dritten Platz abrutschen, wo sie vielleicht kaum mehr als eine hochgejubelte Küstenwacht gelten werde.

 Im November 1943 unterzeichnete General Marshall die Zusammenlegung, womit die eigentliche Auseinandersetzung um die künftige Form des stehenden Heeres begann. Heer und Flotte hatten bereits viele Streitpunkte gefunden, um die man sich rangeln konnte – so zum Beispiel, ob die Armee der Flotte im neuen Pentagongebäude eine Million Quadratfuß oder nur 800.000 zu überlassen haben würde. Die Zusammenlegung selbst trieb den Streit jedoch auf die Spitze. »Wegen eines einheitlichen Verteidigungsministeriums kommt es, fürchte ich, zwischen Armee und Flotte zu einer Spaltung«, schrieb Stimson im Mai 1944 in sein Tagebuch. »So etwas habe ich schon immer befürchtet. Der Gedanke, die Marine würde sich nicht an ihre eigenen kleinen Besonderheiten klammern und für eine unabhängige Flotte eintreten, ist zu schön, um wahr zu sein.« Die Marine ihrerseits sah ebenso schwarz. »Ich habe King, Nimitz und Company mitgeteilt«, schrieb Marineminister James Forrestal im September 1944, »daß die Flotte meiner Ansicht nach heute ihren Fall verloren hat und sich beim Kongreß oder einer öffentlichen Umfrage die Ansicht der Armee durchsetzen würde.« James Forrestal war nicht der Mann, der je ein Schiff aufgab, und mit ihm am Steuer begann die Marine, um eine Position in der kommenden Nachkriegsschlacht zu manövrieren.

 Die Luftwaffe gab vor, ihre Rolle als erster Wächter der Nation von der Marine geerbt zu haben. Ihr Ziel war, sich von der Armee gänzlich unabhängig zu machen. Darüber hinaus hatte sie ein um die ganze Erde reichendes System von Überseestützpunkten im Auge. Ursprünglich rechtfertigte sie diesen Anspruch mit dem Hinweis auf eine Oberaufsicht über die besiegten Achsenmächte und als Beitrag zu den Vereinten Nationen. Faktisch hatte eine solche Planung das Ziel, sich höhere Materialzuwendungen und somit größere Geldzuteilungen zu verschaßen. In einer Variante des Planes sollten zum Beispiel Basen in Neufundland, Labrador, Baffin Island, Grönland, Island und auf den Bermudas, Azoren, in Puerto Rico, Trinidad, Britisch und Französisch Guinea, Brasilien, der Insel Ascension, Liberia, in Dakar, auf den Kapverdischen Inseln, den Kanarischen Inseln, Casablanca, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Belgien, Holland, Westdeutschland, Schweiz, Italien, Dänemark und längs der nördlichen und mittelafrikanischen Luftwege eingerichtet werden.

 Luftmacht war der wesentlichste Punkt und war somit für die Definition der nationalen Sicherheit und Amerikas Rolle in der Welt ausschlaggebend. Luftwaffenoffiziere führten an, daß ihre selbstproklamierte Mission – strategisches Bombardement – zur wichtigsten geworden sei. Die riesigen Wolken der B-17, B-24 und B-29, die in Schwärmen über Hunderte oder sogar Tausende von deutschen und japanischen Industriestädten donnerten, gaben den Vertretern der Luftmacht, wenigstens ihrer Auffassung nach, den Anspruch und auch den Berechtigungsnachweis für ihre Forderungen. Wollte die Flotte nicht den Selbstmord ihrer stolzen Waffengattung herbeiführen, mußte sie einen solchen »Beweis« widerlegen.

 Die Energie, mit der man über die Wirksamkeit atomarer Bombardierungen debattierte, zeugt von der Heftigkeit des Zusammenlegungsstreites. Die USSBS, United States Strategic Bombing Survey, die objektiv zur Lösung dieser Fragen beitragen sollte, wurde selbst in eine Auseinandersetzung hineingezogen, die ein Historiker »den Krieg darüber« nannte, »wer den Krieg gewann, [der] im Sommer 1945 für jene, die die Zukunft der verschiedenen Waffengattungen planten, von brennenderem Interesse geworden war als jeder andere bedeutende Einzelfaktor«. Parteigänger beider Seiten suchten mit der Inbrunst von Werbeagenten nach Beweismaterial. »Wenn wir jetzt intelligent vorgehen, haben wir eine großartige Gelegenheit«, schrieb der stellvertretende Kriegsminister im Luftfahrtministerium, Robert Lovett, Ende April 1945 an General Spaatz. »Bombenschäden können wir fotografieren und ausmessen, bis uns die Zunge heraushängt, doch nichts ist so überzeugend wie eine Darlegung deutscher Führer dessen, was ihnen am meisten geschadet hat... wir brauchen eine Menge solcher Darlegungen von militärischen Führern wie etwa Industriemagnaten, um die unvermeidlichen Ansprüche, die Befürworter anderer Waffengattungen stellen werden, auszugleichen. Gleichbedeutend mit Angaben von Deutschen sind natürlich Darlegungen unserer eigenen Führer, die Sie in der Vergangenheit so erfolgreich zu erlangen verstanden.«

 Der Luftwaffe gelang es, Offentlichkeit und Regierung für sich einzunehmen. Im Mai 1945 flog Kriegsminister Robert Patterson das Rheintal hinunter. Wohin er auch immer blickte, sah er die Auswirkungen der Bombardements. »In Deutschland sah ich keinen Zug auf den Schienen und auf den Flüssen und Kanälen keine Schiffe fahren«, bemerkte er. »Schiffe können den Rhein nicht befahren, bis die zerstörten Brücken weggeräumt sind.« Aus seiner tieffliegenden Maschine sah Patterson alle Nachweise strategischer Bombardements, die er brauchte.

 Innerhalb und außerhalb der Regierung wurde der Standpunkt der Luftwaffe von vielen willig akzeptiert. Strategische Bombardements schienen ein einfaches Mittel, um mit künftigen Eventualitäten fertigzuwerden und den Vereinigten Staaten eine Vormachtstellung zu sichern. Doch gegen Ende des Krieges kam in der Luftwaffe Besorgnis auf. »Ich habe das unangenehme Gefühl, daß alles, was wir bisher bewerkstelligt haben, durch ein Zusammentreffen von Umständen gefährdet werden kann«, fügte Lowett einem Schreiben vom April an General Spaatz hinzu. »Diesmal brauchen wir Stabilität, nicht nur, um den Eindruck zu vermeiden, daß wir leicht hysterisch sind, sondern auch, und das ist noch wichtiger, um deutlich zu machen, daß wir nicht von der Hand in den Mund leben.« Zwei Monate danach drückte General Lauris Norstad die Befürchtungen der Luftwaffe noch deutlicher aus: »Die Flotte, an deren Spitze einer unserer bedeutendsten Finanzleute steht, der sich auch in der Steuerpolitik gründlich auskennt, wird ihre Ziele nach denen der Nation ausrichten und, wenn die Armeepolitik nicht schlau ist, die Verantwortung für die nationale Verteidigung übernehmen.«

 Norstads Befürchtungen waren gerechtfertigt. Die Luftwaffe hatte in Marineminister James Forrestal einen großartigen Gegner. Von allen Aposteln, die in den Jahren unseres Berichtes die nationale Sicherheit predigten, war James Forrestal in der Tat der bei weitem wichtigste. »Die Frage der nationalen Sicherheit nicht nur auf Armee und Flotte zu beschränken grenzte für mich schon an Fetischismus«, sagte er ohne Übertreibung im Herbst 1945. »Wir müssen unser gesamtes Kriegspotential in Betracht ziehen, unsere Bergwerke, Industrie, Arbeitskraft, Forschungen und alle zum normalen Zivilleben gehörenden Aktivitäten. Ich glaube nicht, daß wir uns auf Kriegs- und Marineministerien beschränken sollten. Das muß ein echt globales Anliegen sein.«

 »Jemand hat einmal gesagt, Krieg sei nur eine Fortsetzung der Politik«, fügte er hinzu, »aber ich weiß nicht mehr, wer das war.«

 James Forrestals ganzes Leben war einem aktiven Streben nach persönlicher Sicherheit gewidmet. Er erlangte zwar Ruhm und Macht, niemals aber Sicherheit. Die Kränklichkeit in seiner Kindheit konnte er durch lebenslängliche Ausübung harter Sportarten und Körperertüchtigung überwinden. In Princeton war Forrestal, wie einige Jahre später Kennan, so etwas wie ein Außenseiter, doch ging er deswegen nicht auf eine Exilreise, sondern mischte sich geradezu in das bewegteste Treiben. Er war aktiver Sportler, galt in seiner Klasse als Spitzenkandidat, gab den Daily Princetonian heraus und stieg kurz vor dem Abschlußexamen aus. Die Gründe könnten in wissenschaftlicher Unsicherheit zu suchen sein, wenigstens würde das zur Erklärung seines Möchtegern-Intellektualismus späterer Jahre beitragen. Er nahm die Gewohnheit an, Experten auszuwählen und zu bevorzugen, die ihn mit Namen, Zitaten und Ideen belieferten, mit denen er als tiefschürfend erscheinen konnte.

 Forrestal begann seine Laufbahn in der Wall Street als Verkäufer von Obligationen für das Bankhaus Dillon & Read. Während des Ersten Weltkrieges machte er außerdem einen kurzen Einsatz als Flugzeugführer bei der Marine. (Sein Vorgesetzter berichtete, er könnte einen guten Offizier abgeben, doch müßte man ihm seine »radikalsozialistische Einstellung zu den Männern und seine Bedenken, ob Soldat zu sein richtig sei, austreiben«.) Energisch, überzeugend, kämpferisch, von schneller Auffassung, begierig, länger und härter als jeder andere zu arbeiten, hatte er die Eigenschaften eines Superverkäufers, die ihm nicht nur dazu verhalfen, viel Geld zu machen, sondern auch 1926 Vizepräsident und zwölf Jahre später Präsident von Dillon & Read zu werden. In den zwanziger Jahren verbrachte er seine Mittagszeit meist damit, in einer New Yorker Turnhalle zu boxen. Bei einem zu eifrigen Sparring mit einem Professionellen wurde ihm einmal die Nase gebrochen, worauf er in späteren Jahren nicht wenig stolz war.

 1940 brachte Harry Hopkins ihn als Spezialassistenten des Präsidenten mit »einer Leidenschaft für Anonymität« ins Weiße Haus. Aber eine solche Leidenschaft besaß Forrestal gar nicht, eher war er glücklicher, als er ins Kriegsministerium kam, wo er als Untersekretär die umfassenden Mobilisierungsarbeiten mit außergewöhnlichem Geschick leitete. 1944 wurde er Minister.

 Forrestal war nicht nur ein begabter, hart arbeitender Administrator, sondern auch ein echter Baumeister von Bürokratien. Nachdem er soviel reicher geworden war als andere, wollte er nun auch mächtiger werden. Er war immer bemüht, mehr Aufmerksamkeit, Macht und Anerkennung zu erlangen, verschickte Zeitungs- und Illustriertenausschnitte, erteilte unerbetenen Rat, kultivierte die Presse, während er jegliches Interesse an Publizität leugnete; er tat also alles, um sich bemerkbar zu machen. Er nahm uneingeladen an der Potsdamer Konferenz teil; er sandte J. Edgar Hoover Bücher, in denen die Gefahren des Kommunismus erläutert wurden; typisch war für ihn, daß er einen Brief an Will Clayton mit wichtigen außenpolitischen Ratschlägen begann: »Mein lieber Will: Zwei Vorschläge, die völlig außerhalb meines Amtsbereiches liegen, doch will ich sie auf jeden Fall machen.« Einmal antwortete George Marshall, nachdem er Minister geworden war, auf einen Vorschlag Forrestals mit dem nachdrücklichen Hinweis, der Zweck der amerikanischen Flotte sei es, die amerikanische Außenpolitik zu unterstützen, nicht umgekehrt.

 Der Zeitpunkt, zu dem Forrestal die Sowjetunion als künftigen Gegner herauszustellen begann, ist nicht genau festzustellen. Im August 1944 hatte er General de Gaulle in Algerien über kommunistische Einflüsse in Frankreich befragt und dem General »von den in Amerika weitverbreiteten Befürchtungen« berichtet, »daß anstelle der deutschen die russische Gefahr treten könnte«. Doch wenige Monate später schrieb er an Harriman: »Man ist allgemein der Ansicht, daß England, Rußland und wir zusammenspielen müssen; dazu braucht es Geduld und Toleranz von allen Seiten – je weiter die Gefahr entschwindet, um so mehr werden Belastungen und Spannungen wachsen. Das sind offensichtlich Beruhigungsmittel, doch halte ich es für nützlich, sie selbst ab und zu einzunehmen, denn wie Sie und ich in den zwanziger Jahren feststellten, läuft man im Erfolg leicht Gefahr, die besten Freunde zu verstimmen.«

 Doch ist kaum zu bezweifeln, daß er sich im Herbst 1944 nachdrücklich den Riga-Grundsätzen anschloß, eine Schwenkung, die zweifellos durch seine kämpferische Lebenseinstellung begünstigt wurde. Er gehörte zu den ersten Spitzenpolitikern, die überzeugt waren, die Vereinigten Staaten müßten eine beträchtliche Militärmacht unterhalten und sich auf eine langwierige Konfrontation mit der Sowjetunion einrichten. Er war ständig außer sich, weil andere »Schwierigkeiten hatten, sich für den am Horizont aufkommenden Krieg vorzubereiten«.

 Im September 1947 wurde er erster Verteidigungsminister, ein Posten, der ihm wie auf den Leib zugeschnitten war. Damals stand er auf dem Höhepunkt seines Einflusses und seiner Macht. Jonathan Daniels hat ihn in diesen Jahren beschrieben: »In seiner offensichtlichen körperlichen Vollkommenheit ist etwas Ruhiges, Animalisches. Er hat etwas von der äußerlichen Erscheinung eines besseren Kinogangsters, schnell, leicht, mit einer Andeutung möglicher Gewalttätigkeit und vollkommener Beherrschung an der Oberfläche.«

  Auch wenn der nationale Sicherheitsstaat sich seinen Wünschen entsprechend entwickelte, fand Forrestal in seinem Privatleben immer weniger Sicherheit. »Er lebte sein Leben als konfliktbelasteter Mensch, auf einem straffen Seil gehend, das an einem Ende von der Erbsünde und am anderen vom amerikanischen Traum von Erfolg und Anerkennung gehalten wurde«, erinnerte sich ein Freund aus den dreißiger Jahren. Er mußte einfach vom Ehrgeiz getrieben arbeiten, aber mit der Zeit war er sich der Richtung dieses Ehrgeizes immer weniger bewußt. Er sah sich von allen möglichen Gefahren bedroht, nicht nur den fernen Slawen im Ausland und den geheimen Kommunisten im Inland, sondern auch vom Präsidenten, der ihn nicht mochte, von Zionisten, Kolumnisten und Luftwaffenfürsprechern – alle zusammen unterminierten ihm politisch den Boden. Auch war er durch die Administration vielfältigem Streß und Druck ausgesetzt, dazu kamen eine schlechte Ehe und weitere Spannungen und Emotionen, die er zu verdrängen suchte.

 Ein Jahr nachdem er Verteidigungsminister geworden war, begann ihm die Macht zu entgleiten, und es wurde ihm schwerer, die Rolle des harten Burschen zu spielen. Der Streß eines siebzehn- bis achtzehnstündigen Arbeitstages in dem Versuch, eine träge, streitsüchtige Bürokratie zu managen, forderte seinen Tribut. Seine Machtbefugnisse beim stehenden Heer waren durchaus nicht abgeklärt, und die Streitmächte zögerten nicht, ihn öffentlich herauszufordern. Ihm fehlte der Sinn für Humor, der die Spannungen gelegentlich hätte lockern können.

 Alle, die mit ihm zusammenarbeiteten, konnten die kleinen Anzeichen des künftigen Nervenzusammenbruches voraussehen – oder erinnerten sich später daran. Mitarbeiter bemerkten, daß seine Kopfhaut durch ständiges Kratzen teilweise rot und entzündet war, und dann, im Herbst 1948, wurden sie gewahr, daß er widersprüchliche Anweisungen herausgab. Kabinettmitglieder stellten fest, daß er oft eine Zeitung in der Tasche hatte, die er, wenn er unter Druck stand, herauszog, um darin zu lesen. Mitglieder des Chevy Chase Country Club bemerkten, daß er einen Bahnrekord hielt – nicht in Hinsicht auf die Punktzahl, sondern auf die Schnelligkeit und Schweigsamkeit, mit der er sein wöchentliches Golftraining absolvierte.

 Endlich wurde er im März 1949 von seinem Posten als Verteidigungsminister abgelöst. Er war so sehr unter Streß, daß er in letzter Minute bat, die Vereidigung seines Nachfolgers, Louis Johnson, drei Tage früher, am 28. März, vorzunehmen. Am nächsten Tag begab er sich zu einer Abschiedszeremonie zum Kapitol und dann wieder zurück ins Pentagon, wo er in einem kleinen Büro verschwand, das für ihn eingerichtet worden war. Ein früherer Mitarbeiter, Marx Leva, fand ihn da mit dem Hut auf dem Kopf und ins Leere starrend sitzen. Leva fuhr ihn heim. Später am Tag rief Ferdinand Eberstadt im Forrestalhaus an.

 »Er ist für niemand zu sprechen«, sagte der Butler.

 »Sagen Sie James«, erwiderte Eberstadt, »daß er damit bei einer Menge Leuten durchkommt, aber nicht bei mir.«

  Forrestal kam ans Telefon, doch nur, um zusammenhanglos über die Russen zu reden. Eberstadt war sehr besorgt und organisierte für ihn einen Flug nach Hope Sound, Florida, wo er sich erholen sollte. Auf der Fahrt zum Flughafen mit Eberstadt und Marx Leva wiederholte Forrestal lediglich dreimal: »«Sie sind ein treuer Kerl, Marx.«

 Als Robert Lovett ihn in Florida mit einem Gespräch über Golf empfing, erwiderte F‹orrestal nur: »Bob, sie sind hinter mir her.« Die Kabinettmitglieder daheim in Washington vernahmen sogar noch eine dramatischere Geschichte: Forrestal sei mit dem Ruf durch die Straßen gerannt: »Die Russen kommen. Die Russen kommen! Sie sind schon da. Ich habe russische Soldaten gesehen.«

 Während seines Aufenthaltes in Florida machte er einen Selbstmordversuch. Am 2. April wurde er nach Washington zurückgeflogen und ins Bethesda Naval Hospital eingewiesen. Dort erhielt er den Besuch seines Nachfolgers Louis Johnson, vermutlich gerade derjenige, den Forrestal nicht hätte sehen dürfen.

 Einige Stunden vor Sonnenaufgang an einem Sonntagmorgen im Mai schrieb Forrestal Verse aus Sophokles` Chor über den Helden Ajax ab, »... vom Zahn der Zeit zernagt«. Er legte die Feder nieder, fand ein Fenster, das zu öffnen ihm gelang, band ein Ende seines Morgenrockgürtels an die Heizung und das andere um seinen Hals, hing vielleicht einen Augenblick im Dunkeln und fiel dann sechzehn Stockwerke tief in den Tod.

 In den Jahren vor seinem jämmerlichen Ende war Forrestal eine der anziehendsten, kraftvollsten und dynamischsten Persönlichkeiten in Washington. Als ihn während eines Kabinettessens irgendeine Rede über auswärtige Angelegenheiten langweilte, brach Forrestal los: »Der Ärger mit Ihnen ist, daß Sie Ihre Zeit mit Reden über die internationale Bühne vergeuden; das ist rein intellektuelle Masturbation – es mag ein angenehmer Zeitvertreib sein, bringt uns aber nirgendwo hin.«

 Er übernahm die Leitung der Zusammenlegungsdebatte sogar noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Als Marineminister konterte er die weite Unterstützung der Luftwaffe, indem er die Flotte dazu drängte, ihre Mission als See-Luft-Macht neu zu definieren, wobei der Nachdruck weniger auf das vielgeschmähte Schlachtschiff als auf die Flugzeugträger gelegt wurde, als Basis der Flotte von morgen. Die Flotte sollte also nicht mehr einfach andere Flotten bekämpfen, sondern auch eine potente Macht beim Angriff auf Landarmeen werden. Indem er die Ansprüche der Luftwaffe zurückwies, sollte Forrestals energisches Eintreten für die Seemacht der Flotte in jedem Krieg gegen die Sowjetunion eine führende Rolle verleihen – einem Land, das durch konventionelle Kriegsschiffe kaum zu erreichen war und für das Seemacht keine große Bedeutung besaß. Somit hatte die Kriegsmarine eine neue Rechtfertigung gefunden – amerikanische Sicherheit konnte nur dann beschützt werden, wenn die Flotte für eine weltweite Sendung ausgerüstet und mit reichlicher Kapitalausstattung versehen gegen die sowjetische Nachkriegsbedrohung ganz vorn an der Front stand.

 Forrestals Eintreten für die See-Luft-Macht erleuchtete die neuen Gesichtspunkte der militärischen Planung nach dem Kriege. Faktisch darin konkurrenzlos, war die Sowjetunion einziger Kandidat eines »künftigen Gegners« geworden. Weshalb wurde die Sowjetunion so charakterisiert? Zu Anfang war es eine Art technische Übung. Soll Kriegsplanung einen Nutzen haben, braucht sie ein Ziel, einen Feind, einen Angreifer, und zu diesem Zweck bot sich die Sowjetunion an. Auf Rußland fiel die Wahl auch noch aus einem anderen, rationellen Grunde. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion als einzige für die Vereinigten Staaten militärisch bedrohliche Macht aufgestiegen, es gab kaum Bande brüderlicher Freundschaft, um diese beiden Länder fraternisieren zu lassen. Die Planer zogen solche Erwägungen angemessen in Betracht. Doch wie wir gesehen haben, bestand auch eine wachsende echte Furcht vor sowjetischen Absichten und Fähigkeiten, eine Besorgnis, daß Streitigkeiten zwischen den beiden Nationen und Systemen in eine bewaffnete Auseinandersetzung ausarten könnten. Das Ausmalen einer sowjetischen Gefahr bot den Streitmächten schließlich eine Begründung zur Erweiterung ihrer Mission. Die neue Rolle der Sowjetunion in der Weltpolitik war allen Parteien der Zusammenlegungsdebatte willkommen, denn sie stärkte den Standpunkt jeder Streitmacht und lieferte gleichzeitig Material, um Ansprüche der Rivalen zu kritisieren.

  Wirkliche Furcht und bürokratische Interessen erhöhten die Bedeutung der sowjetischen Position und gaben der militärischen Planung echtes Gewicht. Es ist nicht leicht festzustellen, wann die Teilnehmer an der Zusammenlegungsdebatte aufrichtig und wann sie zynisch sprachen. Zweifellos wußten viele das selbst nicht immer genau. Schon die Tatsache, daß beide Motivationen so eng miteinander verquickt waren, macht es unmöglich, eine Grenzlinie zu ziehen.

  Während eines großen Abschnitts des Krieges – teilweise wegen der strategischen Bombardierungsdoktrin – hatte die Luftwaffe die künftige Gegnerschaft der Sowjetunion heruntergespielt. Wie konnte sie jedoch in einer Welt ohne echte Bedrohung ein großes Budget und aufwendige Techniken fordern? Obwohl Planer 1944 von einem künftigen »eurasischen« Gegner gesprochen hatten, identifizierten sie die Sowjetunion erst Anfang 1945 damit. Diese Identifizierung verschmolz mit der Doktrin der nationalen Sicherheit, den Budgetkämpfen der Flotte und ihrem Verlangen nach einer unabhängigen Luftstreitmacht. »Landheer und Luftwaffe sind augenblicklich von gleichem Gewicht«, steht in einem Gutachten des Luftwaffennachrichtendienstes vom Juli 1945. »Mit dem Eintritt des Friedens werden gemeinsame Bestrebungen auf eine völlige Entwicklung der Luftmacht gerichtet sein. Land bedeutet Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten.«

 Die Luftwaffe begab sich an ihren langsamen Start. Als Forrestal und die Flotte Amerikas »Sicherheitsgrenzen« bis zu für die Russen lebenswichtigen Gebieten ausdehnten, konterte die Luftwaffe, indem sie neue verwundbare Stellen am Himmel und somit für sich selbst neue Aufgaben erörterte. Im Herbst 1945 benutzte die Luftwaffe den russischen »Gegner« bereits als Hauptgrund, um ihre mächtige Streitmacht aufrechtzuerhalten, die ihr wichtigstes organisatorisches Ziel war. Im Oktober 1945 beklagte General Spaatz, daß ein Bericht über die sowjetische Gefahr diese Bedrohung herunterspielte: »Die Schlußfolgerungen sind nicht umfassend genug«, betonte er, »bei der raschen Schwächung unserer Streitkräfte in Europa und Asien ist die Sowjetunion in der Lage, auf dem Kontinent von Europa und Asien Bewegungen durchzuführen, die wir ebenso schwer akzeptieren können und die eine ebenso große Kriegsgefahr bedeuten wie jene, die von der deutschen Politik verursacht wurden.« Er räumte die geringe Wahrscheinlichkeit eines russischen Angriffes auf die Vereinigten Staaten in naher Zukunft ein. »Der nächste Krieg wird jedoch nicht unbedingt durch direkte Angriffe auf die USA ausbrechen. Bis Rußlands Inneres uns nicht mit derselben Freiheit geöffnet wird, wie ihnen die USA offenstehen, glaube ich, sollten wir bei der Demobilisierung unserer Streitmächte eher zögernd vorgehen, insbesondere mit Hinsicht auf unsere strategische Luftwaffe.«

 Bei den herbstlichen Hearings des Kongresses über die Zusammenlegung fand Luftwaffengeneral James Doolittle einen Weg, die amerikanische Sicherheit durch eine simple Landkartenkorrektur neu zu definieren. Die normale Mercatorprojektion sei an den irrtümlichen Theorien schuld, erklärte er, und ersetzte sie somit durch eine Polarprojektion.

 »Schauen Sie sich jetzt einmal die Polarprojektion an«, sagte Doolittle unschuldig ... »Unseren nächsten Gegner kennen wir noch nicht. Wir hoffen, daß es keinen mehr geben wird, doch müssen wir einen solchen in Betracht ziehen... Wir können jedoch bestimmte Gebiete und Völker als undenkbare potentielle Feinde Amerikas eliminieren.« Die Polarprojektion gab der Welt plötzlich ein ganz anderes Aussehen. Die ausgedehnte drohende Landmasse der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken erstreckte sich lauernd innerhalb kurzer Flugentfernung von den Vereinigten Staaten. Die Schlußfolgerung dieser karthographischen Schaustellung war deutlich – Amerikas neue Grenze war eine »Luftgrenze«. Das natürlich verlangte nach ... einer stärkeren Luftmacht. Doolittle warb für eine »Einholkampagne«. Seltsam bei dieser Kampagne war nur, daß es niemanden einzuholen gab. Die eigenen Schätzungen der Luftwaffe ließen kein Zweifel darüber, daß die Russen auf diesem Gebiet viele Jahre im Rückstand waren.

 Die Armee war eine Streitmacht, deren Standpunkt sich nah dem Kriege weiterhin nach den Grundsätzen von Jalta richtete. Im Gegensatz zu ihrem Wunderkind, der Luftwaffe, hatte sie sich nicht zu dem gleichen expansionistischen Konzept der Sicherheit bekannt. Sie definierte statt dessen die Nachkriegsinteressen Amerikas in beschränkterer Form, befaßte sich mit Okkupationspolitik, einer ordnungsgemäßen Demobilisierung, Zusammenlegungsfragen und allgemeiner militärischer Ausbildung. Die Armee sah Rußland nicht als Bedrohung an, weil sie weder an den unbeschränkten Expansionsdrang der Russen glaubte, noch sehen konnte, wie Rußland den Vereinigten Staaten eigentlich gefährlich werden könnte. Überdies vertrat die Armee die Ansicht, daß die durch den Krieg in Rußland verursachten Leiden und Verwüstungen nicht nur Angriffshandlungen ausschlossen, sondern auch, daß der notwendige Wiederaufbau die Sow jetunion zu einer Zusammenarbeit mit den USA veranlassen könne. Das soll nicht heißen, daß alle Armeesprecher diese Ansicht teilten. »Wir scheinen uns nach rückwärts zu überschlagen, um zu den Abkömmlingen von Dschingis Khan nett zu sein«, klagte General George Patton. »Wir ließen uns von ihnen Vorschriften machen, solange wir das geduldig hinnehmen konnten, und sollten nun das gleiche bei ihnen tun, und zwar sofort und unmißverständlich.« Ein bedeutender Vertreter dieser Auffassung war auch John J. McCloy, Forrestals Freund, Nachbar und häufiger Tennispartner, der oberste Zivilist des Kriegsministeriums, dem militärische Aufgaben übertragen waren.

 Die Meinung anderer höherer Beamter, Stimsons, Marshalls, Eisenhowers, gab jedoch den Ausschlag. »Ich bin etwas beunruhigt, weil es manchmal so scheint, als ob amerikanische Soldaten unsere russischen Verbündeten zu sehr nach Äußerlichkeiten wie Smartness, Sauberkeit und manchmal nach persönlichen Angewohnheiten beurteilen«, sagte Eisenhower am 6. August 1945. Er wünschte etwas »zur Indoktrinierung unseres eigenen Volkes« zu unternehmen, das verstehen müsse, was die Russen durchgemacht hatten. »In Gesundheitswesen und Erziehung haben sie nicht unsere großen Vorteile, und natürlich steht allen echten gesellschaftlichen Kontakten immer die große Sprachbarriere entgegen. Doch haben die Russen mächtig zum Gewinn dieses Krieges beigetragen. Sie haben gute Soldaten und brillante Generäle hervorgebracht und sind überdies von Natur aus eine freundliche Rasse.« Eisenhower wollte seine Soldaten »daran.hindern, falsche Schlußfolgerungen zu ziehen und diese dann später zu Hause zu verbreiten, wo sie mit Sicherheit Schaden anrichten würden«. Die persönlichen Beziehungen, die er zu General Schukow hergestellt hatte, bestärkten Eisenhowers eigene herzliche Gefühle.

 Beim Verlassen Deutschlands gab Eisenhower Ansichten kund, die ein Beamter des State Department sarkastisch als »Abschiedsinstruktionen, wie man mit Russen auskommt«, beschrieb. Nachdem er als Oberkommandierender nach Washington zurückgekehrt war, berichtete Eisenhower dem Kriegsrat, Schukow habe ihm versichert, Rußland sei »entschlossen, mit den Vereinigten Staaten in Freundschaft zu leben, seinen Lebensstandard zu heben und jede beschlossene Übereinkunft einzuhalten«. Auch andere führende Armeeangehörige lehnten die Riga-Grundsätze weiterhin ab.«

 General Lucius Clays scharfe Kritik an Kennans Langem Telegramm im Februar 1946 erläutert die Einstellung der Armee in besonders anschaulicher Weise. Im Verlauf seiner allgemeinen Verbreitung wurde Kennans Telegrammtext an die höheren Offiziere im Ausland gesandt. Clays Ratgeber im State Department, Robert Murphy, berichtete H. Freeman Matthews von der Abteilung für Europäische Angelegenheiten, der General sei darüber »ziemlich aufgebracht«. Clay erachtete es als eine Art alarmierender Pearl-Harbor-Warnung, die dem State Department ein schriftliches Beweismittel zum Schutz vor künftigen Anschuldigungen liefern sollte. Er faßte das Lange Telegramm auch als Beispiel der »britischen Methode« und als Erfolgszeichen für «monatelange britische Hetzereien in unserem Volk« auf. Murphy erklärte weiterhin, daß er »ein Inventar dessen, was in Deutschland geschaffen worden war, nicht zu entmutigend fände«. Obwohl manche Amerikaner die Russen für alle Besatzungsprobleme verantwortlich machten, gelte »ein bedeutender Teil jeglichen Tadels deutlich der französischen Regierung, die bisher alles in ihrer Macht Stehende getan habe, um viele Prinzipien des Potsdamer Abkommens zu sabotieren«. Während viele britische Beamte ebenfalls für ein geteiltes Deutschland stimmten, kann man die Sowjetvertreter »nicht beschuldigen, die Potsdamer Abmachungen zu vergewaltigen«. In Wirklichkeit, sagte Murphy, »waren sie in ihrer Durchführung äußerst genau«. Murphy versicherte auch, die Russen hätten Gründe, den Franzosen und Briten zu mißtrauen und sie zu verdächtigen. Er meinte »in aller Fairneß« darauf hinweisen zu müssen, daß die Russen über ihren ei enen Schatten gesprungen seien, um den Amerikanern freundschaftlich entgegenzukommen. »Schukow, Sokolowskij und Sobelew hatten mir öfters auf verschiedene Weise zu verstehen gegeben, daß ihnen an der Freundschaft der Amerikaner aufrichtig gelegen sei, daß es zwischen den beiden Ländern nie zu Krieg kommen würde und sie für das, was die Vereinigten Staaten für die Sowjetunion getan haben, wirklich dankbar sind.« (Doch fügte Murphy hinzu: »Ich überlasse es natürlich George Kennan, einen persönlichen Kontakt dieser Art selbständig auszuwerten.«)

 Anfang April 1946 legte Murphy abschließend seine und Clays Ansicht dar: »Ich möchte ganz deutlich machen, daß wir in unserer beschränkten Unschuld nie und nimmer auch nur eine Minute an eine bevorstehende sowjetische Aggression glauben. Ich bin überzeugt, für jeden Russen, mit dem ich hier zusammentreffe, ist ein baldiger und umfassender Krieg das letzte, was er sich wünscht.«

  General Clay stand jedoch auf immer einsamerem Posten, denn die Riga-Grundsätze hatten sich als neue konventionelle Ansicht durchgesetzt. Nach Erhalt von Murphys Brief erwiderte Matthews umgehend, Clay habe »zu 100 Prozent unrecht« in der Annahme, daß den Befehlshabern Kennans Langes Telegramm auf Drängen des State Department übersandt worden sei. «Die Initiative kam allein von der Spitze (ich meine die Spitze – nicht G-2) in den Kriegs- und Marineministerien, und es verkörpert ausschließlich ihre Denkweise.«

 Die höheren Beamten der Waffengattungen konnten in ihrer Meinung über Rußland zwar zu einem Konsens kommen, doch das traf nicht auf die Zusammenlegung zu. Der Streit der Institutionen hatte sich in der Tat noch zugespitzt. 1945 beauftragte Forrestal seinen Freund Ferdinand Eberstadt, einen Vorkämpfer des mutualen Fonds der Wall Street, mit der Leitung eines Ausschusses, der die gesamte Verteidigungsstärke überprüfen und faktisch Material gegen die absolute Zusammenlegung sammeln sollte. Der Eberstadt-Report, der die Grundlagen des Zusammenlegungsaktes von 1947 lieferte, gilt als wichtiges Dokument der Entwicklung des nationalen Sicherheitsstaates. In dem Mitte September vorgelegten Bericht hieß es, daß Zusammenlegung die administrative Unwirksamkeit fördern und zu »der Unterordnung der Verwaltung unter das Militär« als Konsequenz führen würde.

  Statt dessen schlug er etwas »sehr viel Drastischeres und Weitreichenderes« als die Vereinheitlichung der Waffengattungen vor – »eine vollständige Neuordnung unserer Regierungsorganisation, um unserer nationalen Sicherheit angesichts unserer neuen Weltmacht und -stellung, unserer neuen internationalen Verpflichtungen und Risiken und der epochemachenden wissenschaftlichen Entdeckungen zu dienen«. Die Vereinigten Staaten sollten ständig vorbereitet und mit »einer schnellen, reibungslos arbeitenden und wirksamen Maschinerie ausgerüstet sein«, so daß alle politischen, militärischen und wirtschaftlichen Mittel verfügbar wären, um jeglichem Angriff zuvorzukommen.

 Hier wurde der Begriff »Nationale Sicherheit« bewußt eingesetzt, um eine sehr umfassende Ansicht darzulegen. »Der wechselnde Inhalt und Anwendungsbereich der Phrase ›nationale Sicherheit‹ wird durch den Unterschied unserer internationalen Verpflichtungen nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg ersichtlich.« Die neuen Verpflichtungen »haben die Sphäre unserer internationalen Verbindlichkeiten, die gegenwärtige Konzepte unserer nationalen Sicherheit in Form von Weltsicherheit widerspiegeln, sehr erweitert«. Der Report verlangte ein großes stehendes Heer nach dem Kriege, als sei die Welt mit räuberischen Feinden, gleich jenen, die sich in den dreißiger Jahren heranpirschten, erfüllt. Der Ausschuß empfahl größere organisatorische Umwandlungen mit dem Ziel, die Vereinigten Staaten sowohl »für einen unsicheren Frieden als auch für den Krieg« vorzubereiten. Das Schlüsselwort des Reports war Koordinierung und nicht Zusammenlegung. Ein Nationaler Sicherheitsrat, bestehend aus Spitzengolitikern der Exekutive, sollte einen ständigen Austausch von  Informationen und Gesichtspunkten gewährleisten und für abgestimmte Aktionen sorgen. Das Oberkommando sollte formal abgeschafft werden. Ein eigener Verwaltungsrat sollte für industrielle Vorbereitung, das Schlüsselelement der Militärvorbereitung, sorgen. Als wichtigsten Punkt würde es keine Vereinheitlichung, sondern statt dessen drei koordinierte Einheiten geben, an deren Spitze auch Zivilisten standen. Die Flotte würde weiterhin eine Luftmacht behalten. Eine zentrale Nackichtenagentur sollte errichtet werden. Die Militärs würden bei der Leitung und Ausnutzung wissenschaftlicher Forschungen eine sehr viel größere Rolle spielen. Schließlich hob der Bericht hervor, daß die öffentliche Meinung von der Dringlichkeit der bevorstehenden Krise überzeugt werden müsse.

 Der Eberstadt-Report besänftigte niemand. Lovett äußerte Anfang November 1945 voller Erbitterung, die Armee solle »das Feuer mit Feuer bekämpfen«. Ein höherer britischer Offizier in Washington berichtete im Dezember nach London, daß auch wenn »in Whitehall Chaos herrschen möge... das, glauben Sie, nichts ist, verglichen mit der Art des Chaos« in Washington. Seiner Meinung nach war die Zusammenlegungsdebatte »mit Worten gar nicht zu beschreiben«. Nach einem Besuch in Washington konnte Hastings Ismay in einem Brief an Bedell Smith nur Erstaunen über »das ungeheuerliche Handgemenge« ausdrücken, zu dem es wegen des stehenden Heeres der USA nach dem Kriege gekommen war.

 Truman schob seine Intervention in der Debatte so lange wie möglich hinaus. Doch schließlich sandte er Hill am 19. Dezember 1945 eine Botschaft mit dem Titel »Nationale Sicherheit«, in der er eine absolute Zusammenlegung nach den Richtlinien der Armee verlangte. »Es ist unwahrscheinlich, daß irgendein Mitglied der exekutiven Abteilungen oder der Waffengattungen etwas dagegen haben könnte«, bemerkte Kriegsminister Patterson am gleichen Tage.

 Patterson unterschätzte jedoch die Kriegsmarine, die eine Entscheidung weiterhin hinauszögerte. Am Tage dieser seiner Botschaft klagte Truman deshalb auch über die besonders »verschwenderischen und unrealistischen« Budgetforderungen der Kriegsmarine. Der Präsident wurde immer ärgerlicher. Er äußerte Forrestal gegenüber persönlich, daß ihn das Verhalten der Kriegsmarine zutiefst gekränkt habe. »die Navyleute hatten einen Komplex«, stöhnte Truman Ende Februar, sie hatten »Verhaltensweisen von Stiefkindern« entwickelt.

  Während dieser Periode fand ein noch größerer institutioneller Wechsel statt, von dem der Nachrichtendienst betroffen war. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten die Vereinigten Staaten einen winzigen und wirkungslosen Nachrichtendienst. Luftwaffengeneral Hoyt Vandenberg, einer der Leiter des Hauptnachrichtendienstes nach dem Kriege, wies 1947 darauf hin, daß Amerika vor dem Kriege keinen erstklassigen Dienst gehabt habe, »weil das Volk der Vereinigten Staaten einen solchen nicht akzeptiert hätte«. Er fügte hinzu: »Der bedeutendste Faktor, der den Menschen die Wichtigkeit des Nachrichtendienstes bewußt machte, war Pearl Harbor.«

 Jn Pearl Harbor hatte der Nachrichtendienst zweifach versagt. Erstens hatte er ganz einfach das Observieren vernachlässigt. Einer der Militärattachés in Tokio vor dem Zweiten Weltkrieg erinnerte sich 1947, wie er und seine Kollegen sorgfältig Bombardierungspläne für die bedeutendsten japanischen Großstädte und Industrien aufgezeichnet und diese dann mit Angabe der wichtigsten Ziele nach Washington geschickt hatten. »Trotzdem muß ich zugeben, daß die allgemeine Mobilisierung in Japan vor unserer Nase stattfand«, sagte er. »Wenn Japan uns plötzlich den Krieg erärte, konnte das nach unserer Frühschätzung nicht vor dem 1. Juli 1942 geschehen.« Zweitens hatten die verantwortlichen Beamten es versäumt, aus den sogenannten »Hintergrundgeräuschen« die Anhaltspunkte herauszuhören, die auf einen bevorstehenden japanischen Angriff hinwiesen.

 Dieser Situation wurde im Zweiten Weltkrieg nicht nur durch eine bedeutende Erweiterung des militärischen Nachrichtendienstes, sondern auch durch die Schaffung eines Strategischen Aufklärungsdienstes unter William Donovan abgeholfen. Gegen Ende des Krieges beschäftigte OSS (Office of Strategie Services) über 12.000 Mitarbeiter. Am 1. Oktober 1945 hob Truman Donovans Organisation amtlich auf und verteilte ihr Personal auf die anderen Waffengattungen und das State Department.

 Eingedenk des Exempels von Pearl Harbor und ihrer neuen Supermachtrolle stimmten alle Beamten der amerikanischen Regierung darin überein, daß die Vorkriegsorganisation des Nachrichtendienstes nicht mehr ausreichend sei. In der Tat sahen sie mit Verachtung auf ihre Vorgänger herab. »Meine Kollegen hier kannten im Herbst 1941 nicht den Unterschied zwischen Algerien und Französisch-Äquatorialafrika«, bemerkte Sherman Kent, ein höherer Nachrichtenoffizier nach dem Krieg. »Wenn man in eines der [Nachrichten-]Büros kam und fragte, was sie über die Wasserversorgung in Libyen wüßten, zogen sie eine Akte heraus, in der sich ein von etwa 1927 datierendes Telegramm, eine Seite Skandalspalte einer Hearst-Sunday-Beilage mit dem Titel ›Durst in der Wüste‹, ein Reiseprospekt mit dem Bild einer Oase mit zwei Dattelpalmen befanden; das war die aktenkundige Information über Wasserversorgung in Libyen.«

 Obgleich man allgemein darin übereinstimmte, daß die Vereinigten Staaten einen sehr viel umfassenderen Nachrichtendienst brauchten, war nicht ganz klar, wer ihn kontrollieren sollte. Eine Reihe von Agenturen konkurrierte um die Vorherrschaft oder versuchte wenigstens, die anderen davon abzuhalten. Es kam zu so beträchtlichen Verwirrungen und Verleumdungen, daß Budgetdirektor Harold Smith am 9. Januar 1946 bei einem Treffen im Weißen Haus erklärte: »Ich bin mir nicht sicher, ab wir die Sache der lntelligence (des Nachrichtenwesens) nicht in höchst unintelligenter Weise handhaben.«

 Endlich, am am 22. Januar, gründete Truman eine Central Intelligence Group (CIG) unter der Zuständigkeit einer National Intelligence Authority. Zwei Tage später feierte der Präsident ihre Geburt mit einer privaten Zeremonie im Weißen Haus. Admiral Leahy, seinem Vertreter bei der National Intelligence Authority, und Admiral Sidney Souers, dem ersten Direktor des CIG, überreichte er schwarze Hüte, schwarze Mäntel und hölzerne Dolche. Dann zog Truman einen schwarzen Schnauzbart heraus und klebte ihn Leahy an. Andere nahmen die Gelegenheit auf ihre Weise wahr. Sosthenes Behn, der vielseitige Leiter der Internationalen Telefon- und Telegrafengesellschaft, bot Leahy im Weißen Haus großzügig »die Möglidkeit, die Dienste der Gesellschaft für den amerikanischen Nachrichtendienst in Anspruch zu nehmen«.

 Die CIG war ein Kompromiß aus konkurrierenden Plänen. Sie sollte Informationen, die aus etwa 25 Organisationen in Washington stammten, koordinieren und abstimmen. Doch war die Mitarbeit der anderen, auf ihre Vorrechte bedachten Agenturen recht zurückhaltend. Die CIG erlangte im Juni 1946 mehr Unabhängigkeit, als General Vandenberg, der im Zweiten Weltkrieg den Armeenachrichtendienst geleitet hatte und ein Neffe Vandenbergs war, Souers in der Leitung ablöste. Vandenberg wade aktiv tätig, um Mitarbeiterstab und Funktionen zu erweitern. Im Frühjahr 1946 beauftragte die National Intelligence Authority die CIG mit Forschungen und Analysen, die »gegenwärtig nicht [von anderen Ämtern] ausgeführt« würden. Unter Vandenberg übernahm die CIG die kritische Aufgabe, ihren eigenen Nachrichtendienst aufzuziehen. Bürokratisch erwies es sich für die CIG als einfacher, ihren eigenen Nachrichtendienst zu schaffen, als die anderer Organisationen, die an einer Koordinierung kaum Interesse hatten, zu koordinieren und abzustimmen zu versuchen. Doch sollte man nicht vergessen, daß die CIG zu jener Zeit nach den Maßstäben Washingtons relativ klein blieb.

  Im Winter und Frühjahr 1946 vertraten die meisten amerikanischen Führer einschließlich jener beim stehenden Heer die »richtige Einstellung«. So wurde das russische Problem mit der Zukunft von Dienststellen verbunden, die mit der ausgedehnten Definition der nationalen Sicherheit befaßt waren. Forrestal blieb weiterhin an der Spitze. Im Februar bemerkte Budgetdirektor Harold Smith, daß bei einem Treffen mit Präsident Truman sich die Konversation »dem Standpunkt des Marineministers zugewandt« habe, der zu glauben schien, daß »angesichts der russischen Lage – was immer man damit bezeichnete – die Kriegsmarine keinesfalls unter 500.000« demobilisieren dürfe.

 Die russische Lage sei allgemein nicht glücklich, meinte Truman, obgleich er andeutete, daß er sie nicht für so dringlich halte wie Forrestal.

 Der Marineminister ließ sich nicht bremsen. Er erreichte, daß John Foster Dulles seine Besorgnisse über die nationale Schwenkung zu einem Stadium nicht nur physischer, sondern auch geistiger Demobilisierung teilte. Forrestal drängte seinen akademischen Experten, Edward Willet, in der Schrift, die er endlos lange über die sowjetischen Ambitionen vorbereitete, besonders auf das Ziel der Russen hinzuweisen, »ihr System global zu machen«. Willet verglich den mächtigen »Kreuzfahrergeist« der Sowjetunion mit dem schwachen »Antriebsgeist« der Amerikaner – der nicht viel mehr als »das etwas passive Konzept einer Selbstverteidigung« sei. Ende Februar sah Forrestal die sowjetische Bedrohung auf der ganzen Landkarte, sogar wenn er über Großbritannien sprach: »Wir müssen die Orte auf der Karte ins Auge fassen, wo russische und britische Linien sich überschneiden könnten – das Mittelmeer, die skandinavische Halbinsel, Indien, Indonesien, China, der Mittlere Osten, der Suezkanal, Ägypten, Tripolitanien, die Meerenge von Gibraltar.« Das war sicherlich eine Demonstration von Lord Salisburys geflügeltem Wort: »Ein großer Teil aller Mißverständnisse geht auf den üblichen Gebrauch verkleinerter Landkarten zurück.« Die Bedrohungen, die Forrestal sah, waren beträchtlich übertrieben. Man konnte sie nur ernst nehmen, wenn man wiederum Rußlands Militärmacht übertrieb und sogar den Verdacht hochspielte, daß die Sowjets in der neuen konventionellen Erkenntnis schon eine Rolle spielten. Doch wenn er solchen Besorgnissen Ausdruck gab, teilte Forrestal der Nachkriegsmarine auch eine bedeutende Rolle zu. Nationale Sicherheit war im Gegensatz zu dem etwas »passiven Konzept einer Selbstverteidigung« in der Tat ein Begriff für Aktivisten und Enthusiasten – der nach Aktion auf breitester Ebene auf dem ganzen Erdball rief.

 Forrestal versuchte die große Reichweite der amerikanischen Macht in jeder möglichen Weise zu demonstrieren. Ende Februar 1946 arrangierte er das Auftauchen der Flagge im östlichen Mittelmeer, indem er von dem Schlachtschiff Missouri den Leichnam des gerade verstorbenen Botschafters nach der Türkei zurückführen ließ. Byrnes und Truman stimmten aus ganzem Herzen zu. Fast sogleich versuchte Forrestal noch weiter zu gehen; er wollte die Missouri durch einen Kampfverband als Vorläufer der Wiedererrichtung eines amerikanischen Flottenstützpunktes im Mittelmeerraum geleiten lassen. Zu diesem Zeitpunkt, inmitten der Irankrise, lehnte die Administration den Einsatz eines Kampfverbandes jedoch als zu provokativ ab. Etwa zur gleichen Zeit gewann Forrestal, trotz Byrnes` Befürchtungen, weitere atomare Versudie der Vereinigten Staaten »könnten eine schlechte Auswirkung auf die bereits gestörte Weltlage haben«, eine Erlaubnis für die im Juli auf Bikini geplanten atomaren Versuche der Kriegsmarine.«

 Obwohl die Luftwaffe hinter ihrem maritimen Rivalen noch zurückblieb, sah auch sie den Nutzen einer sichtbaren russischen Bedrohung ein. Ende März schrieb Robert Lovett an General Spaatz, er habe mit Averell Harriman, der kürzlich von seinem Botschafterposten in der Sowjetunion zurückgekehrt war, in Hope Sound, Florida, einige Tage in der Sonne verbracht. Harriman versicherte Lovett, der einzige Sektor der amerikanischen Militärmacht, der Stalin beeindruckte, sei die Luftwaffe. Die Russen erkannten, sagte Harriman, daß unsere »Stellung und Einfluß in der Welt, soweit sie betroffen seien, in irgendeinem unmittelbaren Wertverhältnis zu unserer Überlegenheit oder deren Fehlen in der Luft stehen werden«. Harriman schlug vor, die Luftwaffe solle sich für neue Flugzeuge und die erforderlichen Haushaltsmittel »entsprechend den Interessen der sogenannten russischen Lage, von der jetzt die Presse so voll ist«, einsetzen. Wie im April 1945 machte Lovett sich wegen der zeitlichen Abstimmung viele Sorgen. »Die amerikanische Öffentlichkeit hört selten auf Argumente, wenn sie nicht beunruhigt ist«, erklärte er Spaatz. »Da uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Iran, die Mandschurei und Osteuropa täglich Sorgen bereiten, mag das eine angemessene Gelegenheit sein, darauf hinzuweisen, daß wir die notwendigen Schritte, uns in der Luft eine starke Position zu schaffen, nicht länger hinauszögern können.«

  Die Zusammenlegungskontroverse selbst, die so viel zur Artikulierung der Konzeption der nationalen Sicherheit beigetragen hatte, verhinderte weiterhin eine kraftvollere Bestätigung von Amerikas sehr großer Macht. »Sie und ich, wir sind beide der Ansicht, daß es äußerst unglücklich ist, wenn sich die Waffengattungen in diesem Punkt gegeneinander stellen«, schrieb Robert Patterson am 11. März 1946 an Forrestal. »Ich habe versucht, mich mit Jim Forrestal auf einen Kompromiß zu einigen«, schrieb Patterson einen Monat danach an Stimson, »aber bisher ohne Erfolg.«

 Im Frühjahr 1946 hatten sich die beiden Denkweisen überschnitten. Erkenntnisse über sowjetische Vorhaben bestimmten die Art, in der amerikanische Führer die Auffassung nationaler Sicherheit umrissen, die der neue Botschafter, Walter Bedell Smith, einem aufmerksamen Stalin während des spätabendlichen Besuches im Kreml im April 1946 erläuterte: »In Amerika wie in der Sowjetunion haben wir die Verantwortung für wichtige langfristige Entscheidungen über unsere künftige Militärpolitik; und diese unsere Entscheidungen werden in weitem Maß davon abhängen, was unser Volk über die Politik der Sowjetunion denkt.«

 Die Auslegung nationaler Sicherheit beeinflußte die Interpretation der sowjetischen Vorhaben und Fähigkeiten. Die Doktrin der nationalen Sicherheit bedeutete in der Tat eine grundlegende Revision der Auffassung der amerikanischen Beziehungen zur übrigen Welt, die Stimson 1941 als »unsere grundlegende Verteidigungstheorie« bezeichnet hatte. Die Nation hatte in ständiger Bereitschaft zu sein. Amerikas Interessen und Verantwortlichkeiten waren unbeschränkt und global. Nationale Sicherheit wurde zur vorherrschenden Regel, einem Leitgedanken. Sie lag im Herzen eines neuen und manchmal schädlichen Bildes.

 


 Aus: Daniel Yergin, The Shattered Peace - The Origins of the Cold War and the National Security State, New York 1977; Deutsch: Der Zerbrochene Frieden, Frankfurt 1979. - Die Anmerkungen im Kapitel wurden weggelassen.