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Verfassungsfragen - Fragen der geistigen Verfassung

Kleine Einführung in die Poiesis / Von Peter G. Spengler

 

»Die Definition der Deutschen war es doch, daß sie sich bis zu dem Punkt hinaufgebildet hatten, den Grund zu ihrer Verfassung im Geiste selbst zu wissen.«

Hans Imhoff in seinem Traktat >Poiesis - Verfassungsfragen<

 Zum neuen »Selbstverständnis« der Bundesrepublik Deutschland, die sich seit einiger Zeit unter dem Signum Berliner Republik mehr hinter Neubauten tarnt als zu erkennen gibt, überliefert uns ein Aufsatz in »Das Parlament« die gut »verfassungspatriotische« Feststellung Fritz Sterns, daß die »alte Bundesrepublik etwas geleistet hat, was in den vorhergehenden Jahrzehnten nicht erreicht wurde - die Überwindung der alten Zerrissenheit.« Das Drama der deutschen Zerrissenheit sei der Grund dafür gewesen, daß es Deutschland nicht gelang, im 20. Jahrhundert eine konstruktive Rolle zu spielen, ja sie sei sogar der Grund dafür gewesen, der es Hitler überhaupt erst ermöglichte, zur Macht aufzusteigen.

 Detailreich und einfühlsam hatte der gelehrte Historiker es einst vermocht, die Zwillingskarriere von Bismarck und Bleichröder zu rekonstruieren und damit auch Gründe für den »Erfolg« Bismarckscher »Realpolitik« bei der Zerreißung des Deutschen Bundes und der Neugründung seines »Reiches« (eines gestrafften Fürstenbundes unter alt- und neupreußischer Hegemonie) aufzufinden. In diesem Essay (aus dem Jahre 1996) dagegen hat er nun aber in der Rückbetrachtung schon einen wichtigen Tatbestand bereits ausgeblendet: daß nämlich die Zerrissenheit Deutschlands nicht etwa durch die westdeutsche Bundesrepublik allein schon überwunden worden war. Diese selber, der Dolf Sternberger mit guten und neuen Gründen Verfassungspatriotismus beizubringen versuchte, war nur ein Teil in der Zerrissenheit. Ihre Identität, in der Konfrontation des kalten Krieges stets dem anderen abgerissenen Teil gegenüber, mußte zumindest beschädigt werden, solange der andere Teil genauso als Staat erstarrt zu sein schien wie das eigene Gemeinwesen, dem die Deutschen im Westen als Freie anzugehören schienen. An anderer Stelle ist dieses Thema (vor dem Mauerdurchbruch) schon einmal angerissen worden. »Das einzige, was wir miteinander teilen, ist die Zerrissenheit. Die Zerrissenheit ist unsere Identität.« (Enzensberger)

 Aus einer anderen Sicht hätte man den Grund für die Zerrissenheit auch so kennzeichnen können:

Die Spaltung Deutschlands war nur das späte Ergebnis einer lange zuvor vollzogenen und durch Nationalsozialismus, Weltkrieg und alliierte ›Real‹-Politik nach dem Kriege vertieften und bis zum Wahnsinn des Mauerbaus verschärften Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in einen bolschewistisch-stalinistischen und einen sozialdemokratischen Teil. Mauerbau und Schießbefehl sind späte perverse, barbarische Ausgeburten dessen, was im Gefolge des Ersten Weltkrieges, der Oktoberrevolution in Rußland und der Novemberrevolution mit der deutschen Arbeiterbewegung und mit Deutschland geschehen ist.

 Diese besondere Zerrissenheit der Arbeiterbewegung hatte zwar Stern vermutlich mitgemeint, gleichwohl aber bei seinem Lob der Bundesrepublik schon nicht mehr in Rechnung gestellt. Beim Hören mancher Elogen auf die vergangene Bundesrepublik, während große Teile der deutschen Elite dem Redner an den Lippen hängen, vergessen dann die deutschen Bürger im Westen, daß nicht ihre Bundesrepublik den eisernen Vorhang der Zerrissenheit aufgezogen hat. Sie sehen eilfertig darüber hinweg, daß sie das auch gar nicht konnte, weil sie sich in den ausgehenden achtziger Jahren stolz und heimatlich, den Bündnispartnern gegenüber stets subaltern und zur Bereitstellung des atomaren Schlachtfeldes beflissen, in ihrem beschränkten westlichen Patriotismus eingerichtet hatte.


Verfassungspatriotismus der westlichen Provinz

  In einem unendlich kleinen geschichtlichen Augenblick des frei gewagten Risikos hat ein kleines, schnell wachsendes Häuflein Berliner aus dem Osten die Zerrissenheit zusammen mit den Berlinern im Westen überwunden und erst und nur damit für jeden Einzelnen in dieser Schar der Wagemutigen wie auch für das ganze Deutschland beispiel- und vorbildhaft eine neue Identität gestiftet: die eines freien und vereinten Deutschland. Nur: Am Aufkeimen und Ins-Freie-Sprießen dieses Ereignisses hatte nichts einen so erheblichen und wirksamen Anteil wie die (scheinbare) Autopoiesis des Systems der Massenmedien. In dessen Einflüssen, Rückkopplungen und Schleifen (mit einem globalen »Resonanzboden«) wurden zunächst die Ausgangsbedingungen einer miß- (dafür dann jedoch:) gut verstandenen Verlautbarung eines Beschlusses der Führungsgremien des »Arbeiter- und Bauernstaates« durch Deutungen der Massenkommunikation zu Eingangsbedingungen für die Risikobereitschaft der Grenzdurchbrecher und ihre Willenshandlungen.

 Fortan, mit diesem Resultat erfuhr das autopoetische System der Massenmedien eine qualitative Zustandsveränderung, die zu verstehen einem gescheiten Systembeobachter wie Luhmann bei seinen Betrachtungen über die »Realität der Massenmedien« (1995) nicht vergönnt war. Die Realitäten setzten sich doppelt, nicht nur die Realität der Akteure an der Mauer, die sich selbst als Handelnde in der Fern- und Nahwahrnehmung von der Kamera und den Mithandelnden gespiegelt sahen, sondern auch die des Systems der Massenkommunikation bzw der daran beteiligten Individuen. Einem teilnehmenden Beobachter wie dem Verfasser dieser Zeilen (- der mit gesteigertem Arbeitseifer am Zustandekommen all der unzähligen Live-Übertragungen beteiligt sein durfte -) konnten und mußten die Momente und Resultate der Herstellung von Kommunikation wie nie zuvor und nie danach so eindringlich Tag für Tag an den Elementen ihrer Vernetzung bewußt werden wie nach dem Ereignis des »Mauerdurchbruchs«.

 In diesen gleichsam unendlichen Verschlingungen und Kopplungen der Massenkommunikation verwirklichte sich die Wahrheit einer Poiesis, in der Deutschland sich neu erfand und seine Moment- und Selbstwahrnehmungen gleichzeitig (live übertragen) dem Globus übermitteln konnte. Daraus ergaben und ergeben sich Deutungsmöglichkeiten eines geschichtlichen Augenblickes im Angesicht gleichsam einer »globalen« Kamera, die weit über die Geistesgegenwart Goethes zur Kanonade von Valmy hinausgehen, und die ein Luhmann indessen nicht einmal geahnt zu haben scheint, weshalb er sich mit dem Ereignis des »Mauerdurchbruchs« in seiner Untersuchung nicht eingehend zu befassen vermocht hat. Goethes Beobachtung des Resultats der Kanonade von Valmy, deren Schlußfolgerung er eigentlich Christian von Massenbach abgelauscht hatte, erfuhr hier eine Bereicherung mit der Globalisierung der Massenmedien; er hätte hier zur ganzen Welt sagen können: »...Und Ihr wart dabei.«


Poiesis?

 Der Behauptung, im Geschehensstrom nach dem ersten Durchgang durch die Mauer in Berlin habe sich der Zustand des Systems der Massenkommunikation, oder gar der Konstitution von Öffentlichkeit wesentlich verändert, mag man ja noch folgen können. Aber die Feststellung, dieser Prozeß der Veränderung eines autopoetischen Systems sei durch das Resultat einer Poiesis gesetzt worden, die bereits dem Zug einer Neuerfindung habe folgen müssen, erheischt dann doch noch eine Erläuterung. Schließlich paßt eine solche Konjektur nicht in die Systemmethodik des »endlosen Bandes«, als die sich die fortlaufenden Systembeschreibungen eines Niklas Luhmann Buch für Buch dargestellt haben.

 Vielleicht kann einen hier eine Einsicht Wolf Singers weiterbringen, der als Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung eine denkwürdige Einladung ausgerechnet zum 43. Historikertag erhielt und dort in seinem Eröffnungsvortrag seine Gedanken und Ergebnisse dahingehend zusammenfaßte, daß zur »Geschichte nicht nur die Wirklichkeiten, die aus der Dritten-Person-Perspektive behandelt werden können, die Vorfälle selbst, sondern auch die Phänomene, die erst durch die reflektierende und konstruktivistische Tätigkeit unserer Gehirne in die Welt kommen«, gehören.

»Auch wenn diese Wirklichkeiten erst über kognitive Prozesse entstehen, also mentale beziehungsweise soziale Realitäten sind, so sind sie deshalb nicht weniger geschichtsbestimmend als die konkreten Vorfälle. Geschichte hat demnach die charakteristischen Eigenschaften eines selbstreferentiellen, ja vielleicht sogar evolutionären Prozesses, in dem alles untrennbar miteinander verwoben ist und sich gegenseitig beeinflußt, was die Akteure des Systems, in unserem Fall die Menschen, hervorbringen - ihre Taten, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Empfindungen, Schlußfolgerungen und Bewertungen -, und natürlich auch die Geschichten, die sie unwissentlich fortwährend erfinden.«

 Immerhin wird der Historikerzunft hier ein wesentlicher Sachverhalt deutlich vorgestellt, daß nämlich zur Geschichte, ihren Wirklichkeiten, eben auch die durch »konstruktivistische Tätigkeit« erzeugten Phänomene gehören. Und ferner, daß diese Tätigkeit: Poiesis durch die Gehirne in die Welt kommt. Und auch Singer mutet die geschichtliche Wirklichkeit an wie ein endloses selbstreferentielles Band, in dem alles untrennbar miteinander verwoben ist.

 Aber kennen wir damit auch schon die Erfindungen und ihre Resultate, die von der Poiesis zum Entstehen gebracht und hervorgebracht werden? Anders gefragt: Was für ein Deutschland ist es, das sich im Augenblick des Mauerdurchbruchs neu erfunden hat? Und da es sich um einen Durchbruch durch Mauer und Grenze hindurch handelt, ergäbe es wohl kaum einen Sinn, hier von irgendeiner Wiedererlangung eines irgendwie verlorengegangenen Zustandes zu reden. Denn wann hätte es diesen selbstgewählten Akt der Freiheit, der ja zu Recht als Moment und Auslöser einer Revolution in Deutschland und Europa in den Geschichten fortlebt, in Deutschland je zuvor gegeben? Mit dem Ergebnis einer Verfassung der Freiheit für ganz Deutschland, dem der neu hinzugekommene Teil durch seine frei gewählten Repräsentanten zugestimmt hat?

 Vor dieser (Neu-)Gründung der Freiheit hätte man doch die Lage eher so ins Auge fassen können:

»Eine Weltlage reizt zum Lächeln, in welcher das nach zwei Weltkriegen völlig zerstörte, entmachtete, ausgeblutete und entwaffnete Deutschland, das auch historisch nach eintausendfünfhundertjähriger Hegemonie schlaff und müde ist und dessen Bevölkerung rapide zurückgeht, allein durch den Gedanken, es könnten sich seine Teile einigen, der Welt die denkbar kältesten Schauer zu erregen imstande ist.« (Poiesis, Kapitel 18, 1984)


Eine Erfindung aus Revolution und die heimliche Allianz

 Der Zustand, die Vorfälle, das geschichtliche Resultat, all das ist neu, die Erfindung, die Poiesis ist nicht neu. Wer sie auffinden und wiedererkennen will, muß schon mehr als drei Jahrhunderte zurückblicken und bei dem Manne nachsehen, dessen unerschöpfliche Produktivität, dessen schier grenzenlosen Optimismus die deutsche Geschichtswahrnehmung und -darstellung nur sehr selten gewahr geworden ist und dem man in diesem Jahr in Berlin einen Kongreß widmet, zu dem alle Welt eingeladen worden ist, nämlich bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Dieser hat in seiner Denkschrift zur Reichsreform (»Bedenken welcher Gestalt Securitas publica im Reich auf festen Fuß zu stellen«; etwa 1670) Deutschland in einem Zustand ansehen müssen, wie er den Gründern und »Verfassungspatrioten« der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht unvertraut war: »bei weitem nicht in solchem Flor und Stande ..., als es zu sein in seinen Kräften ist.«

  Leibnizens Promemoria war im Auftrag seines diplomatischen Lehrers und Vorgesetzten Boineburg für den Mainzer Erzbischof und die deutschen Fürsten verfaßt. Seine Absicht im »Bedenken« läuft, mit den Worten von Hans Heinz Holz in der Einleitung zu Leibnizens Politischen Schriften (Europäische Verlagsanstalt 1966), darauf hinaus, »durch einen organisatorisch fester zusammengefaßten Reichsbund dem französischen König eine politische und militärische Abwehrfront entgegenzustellen. ... Der Plan einer Verteidigungsallianz der deutschen Reichsstände wird damit zum Ansatz einer grundsätzlichen Reichsreform. Es kam Leibniz darauf an, bei Wahrung der einzelstaatlichen Rechte der Reichsstände doch die Effektivität einer Reichsexekutive sicherzustellen: ein Bundesrat soll die ausübende Staatsgewalt innehaben, eine gemeinsame Bundeskasse soll die notwendigen Mittel für die allgemeinen Aufgaben bereitstellen. ...  Im Laufe der Zeit, so hoffte Leibniz, würde aus der gemeinsamen Interessenverbindung und aus den ersten Stufen einer administrativen Vereinheitlichung schon eine feste und tiefere Verbindung entstehen, die mehr und mehr zum Erstarken des Reichs als ganzen führen müßte. Die Union der Stände als Harmonisierung ihrer Interessen mußte das commune bonum fördern und sich damit zugleich als nützlich für die Einzelglieder erweisen.«

 Im 100sten und letzten Paragraphen seiner Denkschrift gibt Leibniz mit allem Schwung seiner zwar nicht studentenbewegten, aber von genialen Studien bewegten frühzwanziger Jahre kund, welche Poiesis ihn bei seinen realpolitischen Gedanken gezogen hat:

§ 100 Damit ich nun endlich zu Deutschland wiederkomme und aufhöre, womit ich angefangen, ist dieses mein Schluß, daß das bisher projektierte Werk, wie ich mich nicht scheue zu sagen, das einige nächste Erhaltungsmittel sei, allgemeiner Sicherheit, gewisser Ruhe und gewünschter Wohlfahrt unsers Vaterlandes. Denn wird man erst die Früchte des Friedens genießen, wenn man im Frieden zum Krieg geschickt ist, alsdann wird Deutschland seine Macht erkennen, wenn es sich beisammen siehet, und manchem andere Reflexionen machen, der jetzo nicht weiß, wie er verächtliche Worte gnugsam zu dessen Beschimpfung zusammenklauben soll. Was kann weniger suspekt sein, als alle partialität beiseitsetzen und zu nichts anders als Konservierung des Instrumenti Pacis secundum judicium majorum votorum (doch nur soviel die rem in foedus collatam betrifft, wie in einer Compagnie, denn absolut arrogiert die Sozietät keine solche Macht) sich verbinden, und jedermann so zum Reich gehöret, darein zu nehmen erbötig sein. Was ist untadeliger, als ausländischer Händel sich entschlagen und nur vor uns vigillieren wollen, was ist edeler, höher und Gott angenehmer, als diesen letzten Dienst, diese so gewünschte Herzstärkung seinem in agone liegenden Vaterlande widerfahren lassen. Gewißlich, wer dieses Projekt fasset, wer sich die Mühe nimmt, ein so importierendes Werk zu erwägen, wird verhoffentlich dadurch ein wenig zu bewegen sein und erkennen, daß seine eigne Intention, wo sie anders vernunft- und rechtmäßig, nicht besser, nicht sicherer, nicht nachdrücklicher zu exequieren. Ich habe ohne Passion geschrieben, wünsche ohne Passion gelesen zu werden, und Gemüter zu enden, so endlich aufwachen, in sich gehen und erkennen, daß alsdenn jedem insonderheit wohl sei, wenns insgemein wohlgehet, daß gemeine Ruhe ohne Einigkeit, Einigkeit anjetzo ohne Allianz, Allianz so durch Gegenallianz nicht unterbrochen, ohne impartialität und jedermann gefälligen Zweck nicht zuwege zu bringen; da sie aber zuwege gebracht, mit Gottes Hülfe auch verbitterste aufs äußerste differierende Gemüter zu einem heilsamen Zweck und Ziel zu bringen sein. Ist dieses nicht zu fassen oder wann mans fasset, aller raisonen ungeacht, nicht zu erhalten, panda adeo fatis urgemur iniquis, so bekenne ich, daß ich an Verbesserung unseres Elendes und Aufhaltung unsers übern Hals schwebenden, herannahenden, keine Säumung leidenden Unglücks verzweifle, und die gerechte Hand des uns strafenden Gottes für Augen sehe. Es wird aber die schwere Verantwortung für Gott und der verständigen Posterität denen aufn Hals liegen, deren Affekte oder Fahrlässigkeit die remedia ausgeschlagen, ja den Untergang acceleriert haben. Ich an meinem Ort, si meliora monentes fata audire sinunt hoffe gleichwohl noch von allen redlichen Deutschen, gewissenhaften, ihres Vaterlands liebenden und um Ehre und Nachrede bei der Nachwelt sich bekümmernden Gemütern, sie werden dieses wohlmeinende Konzept nicht in die Luft geschrieben sein lassen. Diejenigen aber, so ohnedas durch ihren Verstand, Interesse und Liebe des Vaterlandes getrieben werden, darunter sonderlich außer allen Zweifel Kaiserl. Mayt., samt deren ihr wahres Interesse verstehenden Ministern, und denn Kur-Mainz als Reichs-Direktor, dessen hohen Verstand und diesem Vorhaben durchaus verwandte bisher geführte consilia die göttliche providenz zu Legung des ersten Steins bei dieser, unsterblichen Ruhms würdigen, der Christenheit heilsamen, Gott höchst gefälligen Institution vorbehalten, begriffen sind, ermahne ich, weil die Sach wenig Verzug leidet, alles auf der Spitz einer weit andern Allianz bei französisch Gesinnten stehet, und bei geringer Zeitversäumung ein irreparabler Schaden sein kann, sich nicht zu säumen, sondern zum Werk zu greifen und an glücklichen Ausgang einer so gerechten Sache nicht zu zweifeln, dabei ich ihnen Großmütigkeit zum Anfang und Verstand zum Vollführen (wie dann die Art und Weise es zu incaminieren, zu vermitteln und werkstellig zu machen, für allen Dingen der in solchen hohen Affairen probierter und bekannter Vorsichtigkeit (des hochlöbl. Reichsdirektors) Kur-Mainz [als Reichs-Direktors] anheimzugeben wünsche, und mit diesem omnine endlich schließe.

 »Verfassungspatriotismus« ist allerdings nicht, was aus diesem Bekenntnis spricht. Eher ein Appell eines Gemüts, das eine Verfassung Deutschlands fordert, in der ein Patriot sich als im Gemeinwohl aufgehoben und in dieser Lebensumgebung als Gemeinwesen zuhause wissen und fühlen kann. Daß ihn dieses Bestreben und das eine oder andere Gelingen dabei Zufriedenheit und Stolz empfinden läßt, ist eher ein abgeleiteter Gemütszustand, aber nicht das Wesen einer Nation, schon gar nicht der deutschen, selbst.

  Es fragt sich aber, ob selbst dieser, auf einen auch im Individuum nachzuempfindenden Gemütszustand zurückgeführte Kern der Nationalität selbst dann noch zur Selbstbescheidung und Selbstbeschränkung verleiten, mithin zur Selbstbornierung abgleiten könnte, wenn das, was Leibniz erstrebte, vielleicht nach mehr als dreihundert Jahren in der Verfassung und Einheit Deutschlands in einer nahezu friedlichen Umgebung ringsum erreicht zu sein scheint. Dagegen muß man wohl annehmen, daß dieselbe Poiesis, die Deutschland in zehn Generationen dorthin gebracht hat, wo sie Leibniz bereits erfunden hatte, die Hirne der Deutschen wohl noch weiter treiben wird. Und offen ist, wohin. Wenn sich die Geschichtsschreibung und -betrachtung in dieser »Berliner« Republik vom Kleben an der »Zeitgeschichte« und dem unaufhörlichen »Lernen« aus ihr nur ein wenig lösen könnte, würde sie womöglich reif, einen Versuch wie den von Hans Imhoff »Poiesis - Verfassungsfragen« zu verarbeiten und zu verdauen. Der war noch einige Jahre vor dem »Mauerdurchbruch« (1984) verfaßt worden, hatte aber weder Kummer noch Mühe damit, daß sich die Deutschen damals noch in ihrem Zustand der Zerrissenheit eingerichtet zu haben glaubten. Wer der Poiesis nur ein wenig auf der Spur ist und ihr auch nur einen Teil ihrer Geheimnisse entrissen hat, kann dem kalt-stolzen Satz des Verfassungsdenkers Hegel, das dem Werk als Abschlußmotto nachgestellt ist, nur seine logische Notwendigkeit konzedieren, wenngleich noch unentschieden ist, ob deren Vollzug als physischer auch und immer schon die Notwendigkeit selber ist.

»... der Begriff und Einsicht führt etwas so Mißtrauisches gegen sich mit, daß er durch die Gewalt gerechtfertigt werden muß, dann unterwirft sich ihm der Mensch.«
G.W.F. Hegel in seiner Verfassungsschrift,
geschrieben 1799 in Frankfurt am Main
 und 1801-1802 in Jena.